Geschichte

Blütezeit vor dem Inferno

Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums, eröffnete am 10. Oktober als Gastgeberin die Konferenz »Das jüdische Frankfurt«. Foto: Rafael Herlich

Die jüdische Geschichte des modernen Frankfurt nicht vom Ende, der NS-Machtübernahme, her zu interpretieren – das sei, so Mirjam Wenzel, das Anliegen der neuen Dauerausstellung im Jüdischen Museum. Ein Jahr nach deren Eröffnung lud die Museumsdirektorin gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der Goethe-Universität und weiteren Institutionen zu einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz, in deren Fokus die Kultur- und Geistesgeschichte des jüdischen Frankfurt von der Emanzipation bis 1933 stand.

Die Tagung nahm eine Zeit in den Blick, deren Erbe die Stadt bis heute sichtbar prägt. Sie fand vom 10. bis 12. Oktober im Rahmen des Forschungs- und Dokumentationsprojekts »Synagogen-Gedenkband Hessen« statt.

BEITRAG Am Eröffnungsabend der pandemiebedingt auf YouTube übertragenen Konferenz betonte Mirjam Wenzel den entscheidenden Anteil jüdischer Bürger an der Entwicklung Frankfurts zur modernen Großstadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert – »eine erstaunliche Erfolgsgeschichte«.

In den Jahren der Weimarer Republik hätten die von jüdischen Frankfurtern mitgestiftete Universität und die »Frankfurter Zeitung«, Vorläuferin der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ), ein liberales und fortschrittliches politisches Klima geprägt. Wenzel erinnerte daran, dass 1930 etwa 30.000 Frankfurter den beiden jüdischen Gemeinden angehörten. Die Stadt habe damals den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Deutschen Reich gehabt.

»Frankfurt ist heute wieder ein Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland.«

Zentralratspräsident Josef Schuster

»Frankfurt ist heute wieder ein Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland«, sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, zur Begrüßung. »Die Erforschung der Geschichte der einzigartigen Beziehung zwischen Frankfurt und den Juden ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass jüdisches Leben und dass Jüdinnen und Juden dauerhaft einen festen Platz in dieser Stadt haben«, unterstrich Schuster. Das »Synagogen-Gedenkbuch« würdigte er als »Werk der Mahnung, Prävention und Abwehr von Antisemitismus«.

IDENTITÄT »Frankfurt wäre ohne seine jüdische Seite eine andere Stadt«, sagte Uwe Becker, Antisemitismusbeauftragter des Landes Hessen, in seinem Grußwort. Trotz ihrer starken jüdischen Identität sei die Stadt nicht immun gegen das Gift des Nationalsozialismus gewesen. »Heute ist der jüdische Teil Frankfurts wieder deutlich sichtbar«, so Becker. »Meine Hoffnung ist, dass Frankfurt das geistige Zentrum des jüdischen Lebens in Europa wird.« In dieser Hinsicht könne die künftige Jüdische Akademie viel leisten, betonte der CDU-Politiker.

Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der im Bau befindlichen Akademie, arbeitete den Stellenwert der Konferenz für die historische Bildung heraus. Es stelle sich die Aufgabe, die Geschichte des deutschen Judentums innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu vermitteln. Das heutige, wesentlich nach 1989 eingewanderte Judentum wisse über diese Zeit relativ wenig. »Es ist unsere Aufgabe, das plurale und vielfältige jüdische Leben in Deutschland, das gerade entsteht, in seinen verschiedenen Vorgeschichten zu präsentieren und zu dokumentieren«, erläuterte Kiesel.

In seinem Abendvortrag nahm der Gemeindevorsitzende Salomon Korn die »Frankfurter Jüdische Gemeinde im 19. und frühen 20. Jahrhundert« in den Blick. Das Frankfurter Beispiel erzähle, so Korn zusammenfassend, vom Heraustreten aus dem Ghetto und dem zähen Kampf um gleiche Rechte, »und es führt das Scheitern des Integrationsprozesses vor Augen«. Korn erinnerte an den Ausspruch des 1933 von den Nationalsozialisten eingesetzten Oberbürgermeisters Friedrich Krebs, aus der »Stadt der Frankfurter Zeitung und Mayer Amschel Rothschilds« solle wieder eine »deutsche Stadt und eine Stadt Goethes« werden.


Schon bald galt die Frankfurter Universität als »Judenuniversität«.

Salomon Korn skizzierte, wie sich die Frankfurter Juden seit dem späten 18. Jahrhundert allmählich aus der nicht nur räumlichen Enge der Judengasse befreiten und für die bürgerliche Gleichstellung stritten, die sie letztlich erst 1864 erlangten. Nach dem Fall der Ghettomauern und der schrittweisen Emanzipation der Frankfurter Juden habe ein Gründungsboom jüdischer Stiftungen eingesetzt. »Frankfurt entwickelte sich zu einer modernen Großstadt und erlebte bis 1914 eine beispiellose Blütezeit«, so Korn.

Einen wesentlichen Anteil daran hatten jüdische Stifter. Die Mehrheit dieser Persönlichkeiten hätte, so Korns Vermutung, diese Bezeichnung wahrscheinlich abgelehnt. Denn nicht die jüdischen Wurzeln, »sondern ihr tief empfundenes Heimatgefühl« habe etwa die Stifter der 1914 gegründeten Universität verbunden: »Sie empfanden sich vor allem als stolze, loyale Bürger der Stadt Frankfurt am Main.«

HEIMATLIEBE Korn betonte auch, wie sehr die Heimatliebe der jüdischen Frankfurter den Blick für den Judenhass verstellte. Schon bald nach ihrer Gründung sei etwa die Universität als »Judenuniversität« verschrien gewesen. Auch die Bereitschaft zur Assimilation sei als Vorwand, die christliche Gesellschaft zu unterwandern und an Macht und Reichtum zu gewinnen, geschmäht worden. In die althergebrachte Judenfeindlichkeit habe sich der völkische Antisemitismus gemischt. Viel zu langsam habe man damals gesehen, welche Dynamik dieser neue Antisemitismus entfalten könne.

Die 1924 erfolgte Wahl des assimilierten Juden Ludwig Landmann zum Frankfurter Oberbürgermeister interpretierte Korn als »ein letztes, trügerisches Zeichen der Hoffnung«. Der lange Kampf um Gleichstellung sei nur für sehr kurze Zeit und nur auf dem Papier gewonnen worden: »14 Jahre lang genossen die Frankfurter Juden volle Bürgerrechte.«

Salomon Korn spitzte seinen Vortrag auf das Ende der Frankfurter Vorkriegsgemeinde zu. Die im Mai 1933 überall in Deutschland brennenden Bücher seien, so Korn, »Vorboten des späteren Infernos« gewesen. Die Frankfurter Juden seien entrechtet, verfolgt und deportiert worden. Über 12.000 von ihnen wurden ermordet. Seinen Vortrag schloss der Frankfurter Gemeindevorsitzende mit den Worten: »Keine Gedenkplakette, kein Mahnmal bringt sie uns zurück.«

TV-Tipp

Ein äußerst untypischer Oligarch: Arte-Doku zeigt Lebensweg des Telegram-Gründers Pawel Durow

Der Dokumentarfilm »Telegram - Das dunkle Imperium von Pawel Durow« erzählt auf Arte und in der ARD-Mediathek die Geschichte der schwer fassbaren Messengerdienst-Plattform-Mischung und ihres Gründers Pawel Durow

von Christian Bartels  24.11.2025

Nachruf

Das unvergessliche Gesicht des Udo Kier

Er ritt im Weltall auf einem T-Rex, spielte für Warhol Dracula und prägte mit einem einzigen Blick ganze Filme. Udo Kier, Meister der Nebenrolle und Arthouse-Legende, ist tot. In seinem letzten Film, dem Thriller »The Secret Agent«, verkörpert er einen deutschen Juden

von Christina Tscharnke, Lisa Forster  24.11.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Nürnberg

»Tribunal 45«: Ein interaktives Spiel über die Nürnberger Prozesse

Darf man die Nürnberger Prozesse als Computerspiel aufarbeiten? Dieses Spiel lässt User in die Rolle der französischen Juristin Aline Chalufour schlüpfen und bietet eine neue Perspektive auf die Geschichte

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Sderot

Zweitägiges iranisches Filmfestival beginnt in Israel

Trotz politischer Spannungen will das Event einen Dialog zwischen Israelis und Iranern anstoßen

von Sara Lemel  24.11.2025

Genetik

Liegt es in der Familie?

Eierstockkrebs ist schwer zu erkennen. Warum ein Blick auf den Stammbaum nützen kann

von Nicole Dreyfus  23.11.2025

Hebraica

»Was für ein Buchschatz!«

Stefan Wimmer über die Münchner Handschrift des Babylonischen Talmuds als UNESCO-Weltkulturerbe

von Ayala Goldmann  23.11.2025

Aufgegabelt

Linsenpfannkuchen von König David

Rezept der Woche

von Jalil Dabit, Oz Ben David  22.11.2025