Künstliche Intelligenz

Blicke in die Zukunft

Die Jerusalemer Firma OrCam hilft Sehbehinderten: In einem schmalen, länglichen Kästchen, etwa so groß wie ein USB-Stick, steckt ihr visueller Zugang zur Welt. Er besteht aus einem Lautsprecher, einer kleinen Kamera – und Algorithmen. Auch in Deutschland haben allein im vergangenen Jahr mehrere Tausend Bundesbürger die schwarze Minibox an ihrem Brillengestell befestigt.

Je nach Ausstattung kostet die Sehhilfe zwischen 3700 und 4800 Euro. Die Erstattungsraten seien in der Regel sehr hoch, heißt es bei OrCam: 90 bis 100 Prozent bei der gesetzlichen Krankenkasse, wenn man die Voraussetzungen erfüllt. Hilfe gebe es mitunter auch von der Rentenkasse oder vom Integrationsamt für den Einsatz am Arbeitsplatz.

Augenärzte Das Gerät setzt zwar gewisse technische Fähigkeiten voraus, sagen Augenärzte. Anderseits kann es aber eine ganze Buchseite scannen und ermöglicht so eine Übersicht. Dadurch entfalle das bei vergrößernden Sehhilfen notwendige und oft störend unübersichtliche Aneinanderreihen einzelner Buchstabenwörter oder Zeilen.

Blinden helfen, Hörprobleme überwinden, Gedächtnisschwund überbrücken: Shashua will aus den Algorithmen mehr herausholen.

Zudem sei MyEye, wie das Gerät heißt, vielseitig: Es könne nicht nur Texte hörbar machen, sondern auch Gesichter und Geldscheine erkennen. Das Gerät helfe somit vor allem auch vollständig Erblindeten, indem es das ihnen Unsichtbare laut vorliest. Die Stimme kommt aus dem kaum sichtbaren Lautsprecher, der auf der dem Ohr zugewandten Seite des länglichen Rechtecks befestigt ist.

Im September erhielt OrCam den »NRW.INVEST Award«, einen Preis, der »herausragende Investitionen ausländischer Firmen am Standort Nordrhein-Westfalen« würdigt. Der Vorreiter im Bereich künstliches Sehen steuert von Nordrhein-Westfalen aus Marketing, Distribution und Personalmanagement, um das Produkt auf dem europäischen Markt weiter zu etablieren. Deutschland, heißt es in Jerusalem, sei für OrCam ein »strategischer Markt«.

Deren Technologie wurde wiederholt von führenden Medien gelobt. Sie könne den fast eine Milliarde Menschen helfen, die blind oder sehbehindert sind, schrieb zum Beispiel das Wirtschaftsmagazin »Forbes« im Mai. Ende 2019 hatte »Time« die »sprechende Brille« als Top-Innovation gepriesen. Und neuerdings stellt sich Fußballlegende Lionel Messi als Botschafter von OrCam zur Verfügung.

SOFTWARE Die treibende Kraft hinter OrCams Entwicklungen ist Amnon Shashua, der das Start-up zusammen mit seinem Geschäftspartner Ziv Aviram vor zehn Jahren gegründet hat. »Unsere Innovation ist die Software«, sagt der leidenschaftliche Mountainbiker und Skifahrer. »Wir schreiben Algorithmen, die eine extrem hohe Leistung haben, präzise und so effizient sind, dass sie in einem kleinen Gerät untergebracht werden können – und funk-tionieren.«

Ständig forschen Sha­shua und sein Team nach neuen Anwendungen – und Märkten.

Das Gerät, behauptet Shashua, sei »ein Game Changer«. Das klingt reichlich unbescheiden – wäre da nicht sein Erfolg mit der Firma Mobileye, die er und Aviram vor drei Jahren für 15 Milliarden Dollar an Intel verkauft haben. Die von ihm entwickelte Kameratechnologie bildet praktisch die Augen für selbstfahrende Autos.

Börse OrCam ist nun der nächste große Wurf des Erfinders, der an der Hebräischen Universität eine Professur für Computerwissenschaften innehat. Die Firma wird derzeit mit rund einer Milliarde Dollar bewertet und könnte im Jahr 2021 an die Börse gehen.

Shashuas Algorithmen helfen künftig nicht nur Sehbehinderten. Auch Hörgeschädigte sollen dank OrCams Technik Gesprochenes ohne lästige Nebengeräusche wahrnehmen können, wozu die gängigen Hörgeräte nicht in der Lage sind.

Ermöglicht wird das durch eine Kamera, die den Sehbereich erfasst und sich auf die Lippen des Gegenübers konzentriert. Algorithmen sorgen dafür, dass die irritierenden Nebengeräusche im Raum herausgefiltert werden und nur die Sätze des Gegenübers zu hören sind.

Gesellschaft Gerade in einer Zeit, in der Individuen ein hohes Alter erreichen, sei das wichtig, sagt Shashua, weil mit zunehmenden Jahren das Hörvermögen nachlasse. Die Kommunikationsfähigkeit werde dadurch beeinträchtigt, was die Gesellschaft fälschlicherweise oft als Verlust kognitiver Fähigkeiten interpretiere.

OrCam »spricht« in 25 Sprachen und wird derzeit in 50 Ländern vertrieben. Als besonders knifflig erwies sich die Entwicklung der Algorithmen für asiatische Sprachen wie Japanisch, Koreanisch oder Mandarin, weil deren Schrift auf ganz anderen Zeichen beruht.

Als nächstes Feature will die Jerusalemer Firma Orientierungshilfe im Raum bieten. Dabei kann der Blinde bestimmen, was er ansteuert. Die kleine Kamera offenbart dem Sehbehinderten dann, wo er sich in Relation zu Rolltreppen, Türen oder Sesseln befindet. Je mehr er sich den Zielobjekten nähert, desto lauter wird der Piepton in seinem Ohr. Entfernt er sich vom Objekt, wird der Ton wieder schwächer. Das Gerät, von dem derzeit eine Betaversion vorliegt, steuert Sehbehinderte auch, wenn sie Türen öffnen oder Tassen aufheben wollen.

ALGORITHMEN Ständig forschen Sha­shua und sein Team nach neuen Anwendungen – und Märkten. Zu den neuen Features gehört zum Beispiel eine Suchfunktion. Sie reagiert gezielt auf Befehle wie »Finde die Telefonnummer«, »Lies mir die vegetarischen Angebote auf der Speisekarte vor« oder »Gehe zum Rechnungsbetrag«.

Und wo bleibt der Schutz der Privatsphäre?

Menschen mit Leseschwierigkeiten kann zudem bald geholfen werden, indem sie das kleine OrCam-Kästchen in der Hand halten. Und wer bei sich erste Anzeichen von Alzheimer entdeckt oder gesichtsblind ist, den könne demnächst ein anderes, auf Künstlicher Intelligenz (KI) basierendes Hilfsmittel unterstützen, sagt Shashua. Falls das Kästchen an der Brille auf einer Party per Kamera jemanden registriert, den man zwar kennt, aber nicht erkennt, werde einem der Name dieser Person zugeflüstert, zudem auch die Information, wo man sie das letzte Mal getroffen hat.

Der erfinderische Professor will nicht nur bei der Überbrückung von Schwächen helfen, sondern auch den Berufsalltag auf eine neue Grundlage stellen. Er denkt zum Beispiel an eine Technologie, die Gespräche erfassen, transkribieren und deren Inhalte auf den Punkt bringen kann. Dann ergäbe etwa eine Bemerkung wie »Wir treffen uns nächsten Montag zum Mittagessen« automatisch einen entsprechenden Eintrag im persönlichen Kalender.

Privatsphäre Wo bleibt da der Schutz der Privatsphäre, mag man einwenden. Der sei zu 100 Prozent garantiert, versichert Shashua, da der Informationskreislauf geschlossen sei und im Kästchen bleibe. Also nichts für Hacker.

Blinden helfen, Hörprobleme überwinden, Gedächtnisschwund überbrücken: Shashua will aus den Algorithmen mehr herausholen. Heute sei Künstliche Intelligenz bloß in der Lage, eng definierte Probleme zu lösen, wie zum Beispiel Schach spielen oder autonom fahren. Shashua arbeitet an einer KI ohne Grenzen. Die Auswirkungen wären gewaltig.

»Stellen Sie sich vor, dass Ihr Computer Artikel nicht nur lesen, sondern sie wie ein Experte verstehen und zusammenfassen kann«, schwärmt er. Dann könnten alle Fachartikel der Welt in sämtlichen relevanten Disziplinen verarbeitet werden, und die Wissenschaftler erhielten durch die Verknüpfung Anhaltspunkte für ihre weitere Forschung. »Menschen sind begrenzt«, sagt Shashua, »Computer nicht.«

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