Film

18 Pillen am Tag

Nan Goldin bei einer »Die-in«-Protestaktion ihrer Organisation P.A.I.N. Foto: © 2022 Participant Film, LLC. Courtesy of Participant

Es ist der 10. März 2018, kurz nach vier Uhr am Nachmittag. Im »Sackler Wing« des Metropolitan Museum of Art in New York schauen sich Besucher eine Ausstellung an. »Ich bin wirklich nervös«, sagt eine von ihnen. Und dann: »Los gehtʼs!« Plötzlich ruft die Frau mit den rotbraunen Locken: »100.000 Tote«, »Tempel des Geldes«, »Tempel der Gier« oder »Tempel von Oxy«.

Die Frau ist Nan Goldin, bekannte Fotografin der New Yorker Underground-Szene in den 80er-Jahren, Aktivistin gegen das Unternehmen Purdue Pharma und selbst lange abhängig vom Medikament »OxyContin«, einem Opioid, das Tausende Menschen abhängig machte und viele tötete.

All the Beauty and the Bloodshed der Regisseurin Laura Poitras zeigt, wie Goldin und ihre Mitstreiter der 2017 ins Leben gerufenen Hilfsorganisation P.A.I.N, ein Akronym aus »Prescription Addiction Intervention Now«, den Kampf gegen eines der größten Pharma-Unternehmen in den USA aufnehmen. Sie wollen die Familie Sackler, die Purdue Pharma in den 50er-Jahren übernahm und Mitte der 90er-Jahre mit OxyContin viel Geld verdiente, juristisch zur Rechenschaft ziehen.

EBENEN Das ist eine Ebene des Films, die für sich allein schon nervenaufreibend ist. Poitras verwebt neben diesem Erzählstrang aber noch zwei weitere Ebenen: Nan Goldins Fotografien und ihre Herkunft. In diesem Film hängt alles mit allem zusammen, und das ist es, was ihn so sehenswert macht: die gekonnte filmische Erzählung über eine Künstlerin, die in den spießigen 50er-Jahren in einer Familie aufwächst, in der nach außen hin alles so in Ordnung ist wie die Klinkerfassade des elterlichen Hauses. Wo innen aber alles so bröckelig ist wie alter Beton. Über vieles wird nicht geredet. Es ist dieses Verschweigen, unter anderem des Suizids ihrer Schwester Barbara, das Nan Goldin bereits mit 14 Jahren aus dem »ordentlichen Leben« ihrer Eltern treibt.

Sie studiert an der School of the Museum of Fine Arts in Boston und wird zur inoffiziellen Dokumentarin der New Yorker Subkultur. Sie taucht mit Haut und Haaren in viele Szenen ein; sie kommt später auch nach Berlin, wo, wie sie im Film beschreibt, ihre »Beziehung zu OxyContin« begann. Nach einer Operation 2014 bekam sie das Opioid verschrieben. Aus vier verordneten Tabletten am Tag wurden 18.

Danach war das Leben ein Kampf. Zwar hat Nan Goldin inzwischen die Sucht überwunden. Aber viele andere Menschen, die Kinder, Eltern, Geschwister, Freunde als Folge der Verordnung dieses Medikaments verloren, zerbrechen daran, dass sie ihren Liebsten nicht helfen konnten. Für diese Menschen legen sich Goldin und ihre Mitstreiter auf den Boden. Für sie freuen sie sich, wenn große Museen den Namen Sackler nicht mehr verwenden, keine Spenden mehr von der Familie annehmen. Für sie war der 10. März 2018, kurz nach vier Uhr am Nachmittag, ein Beginn.

»All the Beauty and the Bloodshed« läuft ab dem 25. Mai in den deutschen Kinos.

Zahl der Woche

3.123.000 Menschen

Fun Facts und Wissenswertes

 28.10.2025

Imanuels Interpreten (14)

Neil Diamond: Der Romantiker

Das mit einer ansprechenden Stimme ausgestattete jüdische Talent wurde zum Publikumsliebling – genau wie seine ebenso prominente Klassenkameradin

von Imanuel Marcus  28.10.2025

Premiere

»Übergriffe gegen uns sind mittlerweile Alltag«

Anfeindungen, Behinderungen, Drohungen und Übergriffe: Ein neuer Film dokumentiert die Pressefeindlichkeit bei vielen Pro-Palästina-Demonstrationen in Berlin. Die Journalisten-Union warnt vor den Folgen für die Pressefreiheit hierzulande

von Markus Geiler  28.10.2025

Rotterdam

Unbehagen im Love Lab

Die jüdische Soziologin Eva Illouz ist an der Rotterdamer Erasmus-Universität nicht willkommen. Sie spricht von einer »antisemitischen Entscheidung«, die immerhin demokratisch zustande gekommen sei

von Michael Thaidigsmann  28.10.2025

Berlin

Mascha Kaléko und die Reise ihres Lebens: »Wenn ich eine Wolke wäre«

Elf Jahre nach Kriegsende entdeckte Deutschland seine verlorene Dichterin wieder. Volker Weidermann gelingt ein berührendes Porträt der Lyrikerin

von Sibylle Peine  28.10.2025

Kommentar

Politisches Versagen: Der Israelhasser Benjamin Idriz soll den Thomas-Dehler-Preis erhalten

Wer wie der Imam den 7. Oktober für seine Diffamierung des jüdischen Staates und der jüdischen Gemeinschaft instrumentalisiert, ist eines Preises unwürdig

von Saba Farzan  28.10.2025

Fernsehen

Selbstermächtigung oder Männerfantasie?  

Eine neue Arte-Doku stellt den Skandalroman »Belle de jour« des jüdischen Schriftstellers Joseph Kessel auf den Prüfstand  

von Manfred Riepe  27.10.2025

Stuttgart

»Mitten dabei!«: Jüdische Kulturwochen beginnen

Konzerte, Diskussionen, Lesungen und Begegnungen stehen auf dem vielfältigen Programm

 27.10.2025

Biografie

Vom Suchen und Ankommen

Die Journalistin hat ein Buch über Traumata, Resilienz und jüdische Identität geschrieben. Ein Auszug aus ihrer ungewöhnlichen Entdeckungsreise

von Sarah Cohen-Fantl  26.10.2025