Litauen

»Symbolische Anerkennung«

Das Tor ist geöffnet: Die Entschädigung gibt der Gemeinde eine Perspektive. Foto: Reuters

Litauen

»Symbolische Anerkennung«

Der Staat will die Gemeinde für NS- und sowjetische Enteignungen entschädigen

von Birgit Johannsmeier  07.12.2010 10:16 Uhr

Dieses Gesetz ist sicher nicht die beste Lösung, aber trotzdem sind wir froh, dass uns der litauische Staat endlich entschädigen will.» Faina Kukliansky, stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Litauen, lehnt sich zurück und deutet auf die Dächer von Vilnius, die sie durch ihr Bürofenster sehen kann. Es geht um das Eigentum der jüdischen Gemeinden in Litauen: ehemalige Schulen, Krankenhäuser, Kinderheime oder andere Gebäude, die im Zweiten Weltkrieg überall im Land von den Nazis beschlagnahmt wurden und auch während 50 Jahren Sozialismus im Besitz der Sowjetrepublik Litauen geblieben sind.

Obwohl diese Immobilien, nach Kuklianskys Angaben, insgesamt mehr als 100 Millionen Euro wert sind, sollen sie per Gesetz ab 21. Dezember nur zu einem Drittel erstattet werden. «Wir sind trotzdem froh. Immerhin ist die Regierung bemüht, das Problem zu lösen», sagt die Rechtsanwältin. Die Summe von 37 Millionen Euro soll im Laufe von zehn Jahren an eine Stiftung überwiesen werden. Dies helfe den 30 jüdischen Gemeinden in Litauen, in Zukunft zu bestehen. «Wir besitzen keine eigenen Häuser mehr, überall müssen wir Miete zahlen und sind auf Spenden angewiesen.»

Geschichte Vor dem Holocaust lebten mehr als 220.000 Juden in Litauen. Es gab 110 Synagogen und zehn Jeschiwot im Land. Die Hauptstadt Vilnius wurde damals auch «Jerusalem des Ostens» genannt. Heute zählen die jüdischen Gemeinden rund 5.000 Mitglieder. Die Eltern von Faina Kukliansky gehörten zu den wenigen Schoa-Überlebenden. Wie durch ein Wunder entkam ihre Mutter der Ermordung im Ghetto Shiaulei, der Vater harrte drei Jahre bei den Partisanen im Wald von Grodno aus. Ihren Namen Faina hätten die Eltern zu Ehren der Tante Faigale gewählt, die am Tag der Befreiung im KZ Stutthof starb.

Nach Litauens Unabhängigkeit 1990 bekam die jüdische Gemeinde sofort zwei Synagogen in Kaunas und Vilnius zurück. Wie bei den Nachbarn in Lettland sei die Rückgabe von kommunalem und privatem Eigentum aber bis jetzt ungelöst geblieben. Vielleicht liege es am Druck der Europäischen Union, aus den USA oder einfach an der neuen Regierung, dass man sie endlich entschädigen wolle, meint auch Markas Zingeris, Leiter des Jüdischen Museums Vilnius. Während in Lettland diese Themen nach wie vor auf Eis liegen, soll jetzt in Litauen immerhin die Frage der Entschädigung des Gemeindeeigentums gelöst werden. «Diesen Schritt werte ich vor allem symbolisch, als Zeichen der Anerkennung von uns Juden in Litauen», sagt Markas Zingeris.

Presse Eine Rolle spiele auch Litauens Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite. Nur wenige Tage nach ihrem Amtsantritt im Juli 2009 habe sie seine Ausstellung über die ermordeten jüdischen Kinder besucht. «Früher wurde in der Presse oft schlecht über unsere Forderungen geschrieben», erinnert sich der Museumsleiter, «die Präsidentin stellt sich jetzt eindeutig hinter uns.»

Faina Kukliansky hat ebenfalls eine wohlwollende Stimmung im litauischen Parlament verspürt, als sie zur zweiten Lesung des neuen Entschädigungsgesetzes eingeladen war. Dabei hatte das Justizministerium in einem offiziellen Brief an die Parlamentarier sogar vor einem erstarkenden Antisemitismus in Litauen gewarnt. Denn das Land kämpft im Moment mit der größten Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit. Unbeirrt hat sich eine Mehrheit der Politiker trotzdem für die Zahlung ausgesprochen. Die letzte Lesung ist für den 21. Dezember angesetzt. Ob es einen Zusammenhang zu jenem Zeitungsartikel gebe, in dem kürzlich zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit ein litauischer Historiker den Holocaust geleugnet hat, vermag Faina Kukliansky nicht zu sagen.

Erfreut ist die stellvertretende Gemeindevorsitzende darüber, dass sofort zahlreiche litauische Nichtregierungsorganisationen mit einem öffentlichen Aufschrei reagierten. «Wir fühlen uns von der jungen Intelligenz des Landes unterstützt», sagt sie.

Spannend werde es allerdings, was nach der Entschädigung des jüdischen Gemeindebesitzes komme. Kukliansky rechnet damit, bald vors Verfassungsgericht geladen zu werden. Sie kämpft jetzt weiter um die Rückgabe von privatem Eigentum. Was wird aus jenen Immobilien, deren Eigentümer ermordet wurden oder ins Ausland geflohen sind? Heute können nur litauische Staatsbürger Privateigentum zurückverlangen, deren Pass vor dem 31. Dezember 2001 ausgestellt worden ist. Faina Kukliansky lässt nicht locker. Die engagierte Anwältin vertritt zahlreiche Juden in aller Welt und strebt eine Änderung der litauischen Verfassung an, um ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen.

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