Schweiz

»Man muss hartnäckig bleiben«

Seit 2020 im Amt: Gemeindepräsident Ralph Lewin Foto: Kostas Maros

Herr Lewin, die jüdische Gemeinde in der Schweiz befindet sich möglicherweise in der größten Krise seit 1945: Wieso treten Sie ausgerechnet jetzt zurück?
Ich bin 2020 für eine Periode von vier Jahren gewählt worden und habe nie mehr versprochen. Das Mandat war schon vor dem 7. Oktober wesentlich aufwendiger als erwartet, weshalb ich aus familiären Gründen etwas kürzertreten möchte. Zum Glück haben wir mit der vorgeschlagenen Rochade mit meinem Vizepräsidenten Ralph Friedländer aus Bern eine sehr gute Lösung, die in einer schwierigen Zeit die Kontinuität gewährleistet.

Was ist im Moment das größte Problem der jüdischen Gemeinde der Schweiz?
Ich denke, dass uns die starke Zunahme antisemitischer Vorfälle nach dem 7. Oktober am meisten Sorge bereitet. Mittelfristig bleiben aber die Demografie und vor allem der Überlebenskampf kleiner Gemeinden eine große Herausforderung.

Unterscheiden sich die aktuellen Probleme der Schweizer Jüdinnen und Juden stark von anderen Gemeinschaften in der Diaspora?
Ich glaube, die Probleme sind sehr ähnlich gelagert: zunehmender Antisemitismus und mangelnder Nachwuchs in etlichen Gemeinden, aber wohl auch die zunehmende Herausforderung der Freiwilligenarbeit.

Sollten die jüdischen Verbände versuchen, stärker Einfluss auf die israelische Regierung und deren Politik zu nehmen?
In Bezug auf die israelische Politik gibt es innerhalb der jüdischen Gemeinschaft genauso unterschiedliche Haltungen wie in Israel selbst. Auch deshalb halten wir uns diesbezüglich mit Kommentaren zurück. Bei der umstrittenen Justizreform haben wir allerdings kein Hehl aus unserer Sorge um die Gewaltenteilung in Israel gemacht und das Gespräch mit der israelischen Botschafterin in der Schweiz gesucht. Selbst wenn die jüdischen Verbände sich bezüglich Israel einig wären, wäre ihr Einfluss auf die israelische Politik nach meiner Einschätzung marginal. Schon die USA als wichtigster Verbündeter Israels haben große Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Ich denke, für Israel und die Juden in der Diaspora wäre es sehr gut, wenn sich nach den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Monate wieder einmal ein Fenster für eine friedliche Lösung zwischen Israel und den Palästinensern öffnen würde.

In der Wahrnehmung vieler Jüdinnen und Juden ist die Politik der »neutralen« Schweiz gegenüber Israel nicht neutral, sondern fast feindselig – zum Beispiel das Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat. Teilen Sie diese Meinung?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Die Schweiz hat sich gerade kürzlich bei der Abstimmung über die Aufnahme von Palästina in die UNO anders als andere europäische Staaten im Sicherheitsrat der Stimme enthalten und nicht dafür gestimmt. Allerdings versucht die Schweiz eine Gratwanderung, die nicht immer gelingt. Wenn sie einseitige Resolutionen annimmt, reagieren wir deutlich.

Inwieweit war die Messer-Attacke in Zürich am 2. März aus Ihrer Sicht für die Schweiz ein Paradigmenwechsel? Bisher herrschte die Doktrin: So etwas ist hierzulande nicht möglich.
Es ist keine Frage, dass diese Attacke für uns ein Schock war. Offenen, gewalttätigen Antisemitismus gab es in der Schweiz vorher nämlich kaum. Wir hatten in den letzten Jahren in der Deutschschweiz null bis eine Tätlichkeit pro Jahr. 2023 ist diese Zahl auf zehn gestiegen. Die Messerattacke von Zürich hat gezeigt, dass eine Radikalisierung junger Muslime auch in der Schweiz möglich ist. Die Prävention dagegen muss nun ganz dringend verstärkt werden.

Wie ist die Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland? Ist sie wegen der gemeinsamen Sprache intensiver als mit anderen jüdischen Dachverbänden?
Die Zusammenarbeit ist ausgezeichnet, vor allem in den letzten Jahren hat sich diese noch intensiviert. Wir pflegen einen kons­truktiven und freundschaftlichen Austausch auf Augenhöhe. Ende letzten Jahres haben wir dazu eine Vereinbarung unterzeichnet, anlässlich des Gemeindetags in Berlin, der für mich ein eindrückliches Erlebnis war. Die gemeinsame Sprache erleichtert die Kontakte. Das gilt auch für den österreichischen Dachverband. Die Kontakte zu den übrigen Verbänden finden primär im Rahmen des European Jewish Congress und des World Jewish Congress statt.

Was ist aus Ihrer Sicht der größte Erfolg Ihrer Amtszeit?
Zum einen die ausgezeichneten Beziehungen, die wir zu den Behörden pflegen können, und zum anderen, als konkretes Ergebnis davon, die Verzehnfachung der Bundesmittel für die Sicherheit von besonders gefährdeten Minderheiten. Das war wichtig, da zuvor die jüdischen Gemeinden zu einem großen Teil selbst für ihre Sicherheit aufkommen mussten. Ein unhaltbarer Zustand! Im Weiteren zahlt sich unser Engagement für eine Strategie der Schweiz gegen Antisemitismus aus: Die Regierung hat ihre Meinung geändert und ist nun bereit, wie etliche andere europäische Länder auch, eine solche Strategie und einen Maßnahmenplan zu entwickeln.

Was geben Sie Ihrem Nachfolger als wichtigsten Ratschlag mit auf den Weg?
Ich denke nicht, dass er meine Ratschläge benötigt. Wir saßen ja gemeinsam in unserer Geschäftsleitung und haben gut zusammengearbeitet. Wie ich hat auch er festgestellt, dass man bei praktisch allen politisch relevanten Themen hartnäckig am Ball blieben muss. Ob es um das Verbot von Nazisymbolen geht oder darum, dass es endlich auch ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus gibt: Es braucht große Energie und Durchhaltewillen, um zu konkreten Ergebnissen zu kommen. Dabei werde ich ihn auch als Vizepräsidenten unterstützen.

Mit dem bisherigen Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) sprach Peter Bollag. Ralph Lewin wird auf der Delegiertenversammlung am 2. Juni in Bern zurücktreten.

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