Dort, wo einst die Baracken des Konzentrationslagers standen, kämpfen sich in diesem Frühling Wildblumen durch den Schotter. »Wir haben den Gärtnern gesagt, sie sollen sie stehen lassen«, sagt Astrid Ley, stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Sachsenhausen. Die Menschen, die ihr zuhören, nicken. »Ich finde es gut. Es gibt immer Zeichen der Hoffnung, selbst hier«, sagt eine Frau.
Es sind keine gewöhnlichen Besucher, die Astrid Ley heute durch das ehemalige Lager führt. Es sind Vertreter aus den sieben größten Diasporagemeinden, Juden aus Australien, Argentinien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada und den USA. Auch wenn sie von weit her kommen, hat fast jeder Vorfahren, die die Schoa überlebt haben oder ihr zum Opfer fielen, ein Großvater aus Bochum, eine Oma aus Polen. Der Besuch in Sachsenhausen ist für die Delegierten der »J7«, der Internationalen Taskforce gegen Antisemitismus, keine notwendige Mahnung, sondern eine Ansage: »We are still here!«, rufen sie in eine Handykamera. Es ist der Auftakt ihres Besuches in Berlin, genau 80 Jahre nach dem Sieg über Nazideutschland.
»Nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt«
»Nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Erinnerung an diese Zeit verblasst und gleichzeitig der Antisemitismus steigt«, sagte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, bereits im Vorfeld der Tagung. Schuster empfing die Delegierten aus sieben Nationen in der vergangenen Woche als Gastgeber, er hat in diesem Jahr den Vorsitz der J7 übernommen. Als zentrales Thema wurde die »Shoah Education« festgelegt.
»In Deutschland erleben wir eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber der Erinnerungskultur, die bis hin zur Relativierung der Schoa reicht, sogar in den Parlamenten«, begann Schuster dann auch die Pressekonferenz, die am Mittwoch vergangener Woche vor internationalen Journalisten im Leo-Baeck-Haus abgehalten wurde. Ein großer Teil der jungen Generation in Deutschland wisse wenig über diese Zeit, mahnte Schuster. »Wir beobachten ähnliche Entwicklungen in allen J7-Staaten.« Er sei daher froh, dass es diese starke Taskforce gebe, die gegen jene Entwicklung vorgehe.
Die J7 haben sich im August 2023 gegründet. Schon damals, vor dem 7. Oktober, beobachteten die Diasporagemeinden einen beunruhigenden, weltweiten Anstieg von Antisemitismus. Jüdische Organisationen und Dachverbände aus den sieben Nationen mit den größten Gemeinden außerhalb Israels beschlossen damals, künftig gemeinsam gegen Antisemitismus vorzugehen und sich für eine neue weltweite Welle des Judenhasses zu wappnen.
»Wir wissen, dass die Bedrohung global ist und die Antwort auch global sein muss.«
Marina Rosenberg
»Diese Vision hat sich nach dem 7. Oktober leider bewahrheitet«, sagte Marina Rosenberg, Vizepräsidentin für internationale Angelegenheiten bei der Anti-Defamation League (ADL), während der Pressekonferenz am Mittwoch. »Wir wissen, dass die Bedrohung global ist und die Antwort auch global sein muss.«
Das bestätigt auch der erste J7-Bericht, der zur Pressekonferenz vorgelegt wurde. Seit dem 7. Oktober 2023 dokumentiert dieser, was jüdische Gemeinschaften weltweit aus erster Hand erlebt haben. »Zwischen 2021 und 2023 stiegen die antisemitischen Vorfälle in den USA um 227 Prozent, in Frankreich um 185 Prozent, in Kanada um 83 Prozent, in Großbritannien um 82 Prozent und hier in Deutschland um 75 Prozent. In Australien verzeichneten wir allein im Jahr 2024 einen unvorstellbaren Anstieg von 317 Prozent«, sagte Rosenberg.
2023 mehr als 38 antisemitische Vorfälle pro 1000 jüdische Einwohner in Deutschland
Betrachte man die Anzahl der Vorfälle pro jüdischer Person in den einzelnen Ländern, werde das Bild noch alarmierender. In Deutschland gab es 2023 mehr als 38 antisemitische Vorfälle pro 1000 jüdische Einwohner. »Das ist die höchste Zahl unter den J7-Staaten in diesem Jahr. Die Opfer sind Ihre Nachbarn, Ihre Freunde, Ihre Kollegen«, sagte sie an die Journalisten gewandt, die von lokalen und internationalen Medien ins Leo-Baeck-Haus gekommen waren.
»In allen sieben Ländern beobachten wir die gleichen beunruhigenden Muster: mehr Gewalt, gezielte Angriffe auf Synagogen und jüdische Schulen, grassierenden Online-Hass auf Juden, die ihre Identität zunehmend aus Angst verbergen, und das Versäumnis der Regierungen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen«, so Rosenberg. Daraufhin gaben die Vertreter aus den anderen Staaten Einblicke in die erschreckendsten Beispiele dieser Gewalt in ihren Gemeinden.
So berichtete Alex Ryvchin aus Australien, er erlebe, dass selbst in einer friedlichen und erfolgreichen multikulturellen Gesellschaft Antisemitismus Fuß fassen und innerhalb weniger Monate den Charakter eines Landes grundlegend verändern kann. Gewaltverherrlichende Sprechchöre auf den Straßen, Slogans und Boykottkampagnen seien innerhalb kurzer Zeit eskaliert, bis hin zu Angriffen auf Synagogen und jüdische Wohnhäuser – darunter auch sein ehemaliges Zuhause – und sogar auf Kindergärten.
»Auf Schulen wurde geschossen, Synagogen wurden mit Brandbomben angegriffen«
Sein Kollege aus Kanada, Noah Shack, konnte eine ähnlich erschreckende Liste an Attacken aufzählen: »Auf Schulen wurde geschossen, Synagogen wurden mit Brandbomben angegriffen. Jüdische Geschäfte wurden verwüstet, Menschen auf der Straße belästigt und angegriffen.«
Mauro Bernstein aus Argentinien betonte, dass man eng mit der Regierung in Buenos Aires zusammenarbeite und mit Gesetzen und Programmen vor allem gegen Antisemitismus im Netz vorgehe. Allerdings sei auch in Argentinien die Anzahl antisemitischer Vorfälle besorgniserregend gestiegen.
Die Vertreter aus den anderen Staaten gaben Einblicke in die erschreckendsten Beispiele der Gewalt in ihren Gemeinden.
Sein französischer Kollege, Yonathan Arfi, Präsident des französischen Dachverbandes CRIF (Conseil Représentatif des Institutions Juives de France), ergänzte, dass es auch in Frankreich dringenden Bedarf an stärkeren Regulierungen gegen Online-Hass gebe. Aber auch die Zahlen der gewalttätigen physischen Angriffe sei nach dem Massaker der Hamas explodiert. Besonders erschütternd ist der Fall eines zwölfjährigen Mädchens, das von einer Gruppe Gleichaltriger vergewaltigt wurde, weil sie Jüdin ist. »Wir wissen, dass dieser Antisemitismus seinen Ursprung im radikalen Islam, im Israelhass, aber auch in Verschwörungstheorien hat«, so Arfi.
»Das Vertrauen der Menschen in ihre Arbeit und in ihr Umfeld schwindet«
Adrian Cohen aus Großbritannien betonte, dass neben den besonders brutalen Fällen auch der unterschwellige Antisemitismus seine Spuren in den Communitys hinterlasse: »Das Vertrauen der Menschen in ihre Arbeit und in ihr Umfeld schwindet, und die Beschwerden über Diskriminierung, Isolation und Ausgrenzung nehmen zu. Auch im Kunst- und Kulturbereich gibt es einen unausgesprochenen Boykott jüdischer Institutionen, und die Möglichkeit für Juden, sich in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen zu engagieren, wird eingeschränkt.«
Schließlich ergriff Betsy Cohen das Wort, die künftige Vorsitzende der Konferenz der Präsidenten der großen jüdischen Organisationen Amerikas. Sie nutzte den Moment, um die einzelnen erschütternden Erfahrungen zusammenzufassen. »Dieser erste J7-Bericht ist mehr als nur eine Sammlung düsterer Statistiken. Er ist eine moralische Abrechnung. Er beweist uns, was unsere Gemeinschaften bereits gefühlt haben: dass der Schmerz des 7. Oktober noch immer nachhallt und dass der Antisemitismus auf allen Kontinenten zunimmt.«
Der Bericht bekräftige, »dass alle unsere Gemeinschaften vor ähnlichen Herausforderungen stehen«. Hier ergebe sich aber auch die Möglichkeit, voneinander zu lernen. Ein praktisches Beispiel nannte ihr Kollege aus Australien: Dort hatten Antisemiten in einem »Massen-Doxing« die Namen und Adressen jüdischer Künstler und Kreativer veröffentlicht. Da sich die Amerikaner bereits für die Verabschiedung von Gesetzen gegen »Doxing« eingesetzt hatten, konnten diese Erfahrungen genutzt werden, um ähnliche Prozesse in Australien einzuleiten. »Die Entwicklung gemeinsamer Strategien und Ansätze war äußerst hilfreich«, so Alex Ryvchin.
Man wolle gemeinsam für das jüdische Volk einstehen, mit einer Stimme sprechen und dazu beitragen, eine sichere, inklusivere Welt für kommende Generationen zu sichern, ergänzte Betsy Cohen. Das Treffen in Berlin, 80 Jahre nach dem Ende des Holocaust, sei nicht zufällig: »Die Worte ›Nie wieder‹ werden nicht nur ausgesprochen, sondern von jedem von uns täglich gelebt.«