Gaza

Von der Welt vergessen

Wurde am 7. Oktober 2023 mit Bruder, Vater und Mutter verschleppt: Kfir Bibas war damals knapp neun Monate alt.

Tasten. Fühlen. Greifen. Die Welt entdecken. Lachen, Brabbeln, Krabbeln. »Mit neun Monaten sucht euer Baby verstärkt eure Nähe und fremdelt in der Gegenwart von Menschen, die es nicht so häufig sieht«, weiß die Illustrierte »Eltern«, das Fachblatt »für die schönsten Jahre des Lebens«.
Kfir Bibas aber war in seinem Leben bisher länger im Dunkeln als am Licht, länger in einem Loch als auf dem Spielplatz. Kfirs Welt ist stickig und staubig. Wie er und die anderen Geiseln gefoltert werden mit Hunger, Kälte, Einsamkeit, Erniedrigung, Dunkelheit und sexueller Gewalt, ist jetzt nachzulesen im Bericht Israels an die UN.

Kfir kennt noch nicht einmal die Worte, um seine Tortur zu beschreiben. Am 7. Oktober 2023 war er knapp neun Monate alt. Kurz davor entstand ein Foto, das ihn zeigt, wie er voller Erwartung in diese Welt strahlt, die kurz danach über ihm zusammenbricht: Gemeinsam mit seinem vierjährigen Bruder Ariel, seinem Vater und seiner Mutter wurde er in ein Verlies nach Gaza verschleppt.

»Ganz gleich, wo«

In Israel kennt jeder Baby Kfir. Aber außerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist Kfir nahezu vergessen. Selbst für das Internationale Kinderhilfswerk UNICEF, das für jedes Kind da sei, »ganz gleich, wo«, sind Kinder doch unterschiedlich gleich. UNICEF zeigt in diesem Jahr drei Kinder als Kinderfoto des Jahres. Ein Kind aus Israel und zwei Kinder aus Gaza. Traurige Bilder, bedrückende Bilder.

Der achtjährige Stav hat das Hamas-Massaker in seinem Moschaw Netiv HaAsara überlebt, sechs Stunden haben die Bewohner um ihr Leben gekämpft. Stav ist ein Überlebender. Dareen ist elf, Kinan ist fünf, beide sind gerade in Katar, wo sie behandelt werden. Der Rest der Familie soll bei einem Luftangriff Israels in Gaza ums Leben gekommen sein. Diese Gleichsetzung des Leids aber ist perfide und obszön, weil es die Verantwortlichen freispricht. Zur Erinnerung: Die Hamas und ihre Helfershelfer haben alle Kinder auf dem Gewissen, jedes einzelne. Ihr barbarischer Überfall hat auch die Kindheit von Dareen und Kinan in Gaza und die von Stav in Israel jäh beendet.

Die israelfeindliche Hetze ist unerträglich. Zugleich wird kaum über die Geiseln gesprochen.

Wer das Leid der Kinder in Gaza beenden will, dem darf das Leid der israelischen Kinder nicht gleichgültig sein, der muss die Freilassung Kfirs und aller anderen Geiseln fordern. Sie aber sind selbst für UNICEF, für Amnesty International und das Internationale Rote Kreuz bestenfalls Opfer zweiter Klasse, ein pflichtschuldiges Anhängsel der Forderungen nach Waffenstillstand, die sich vor allem an Israel richten.

Auch die UN und Außenministerin Annalena Baerbock attackieren nicht etwa die Hamas, die nicht einmal eine Liste ihrer Geiseln rausrückt, oder deren Verbündete Iran und Jemen, sondern sie delegitimieren Israels Verteidigung. Im Namen der Menschenrechte werden so die Opfer zu Tätern. Die Geiseln dagegen sind nur noch eine lästige Fußnote, dabei müssten ihre Fotos überall gezeigt werden, um den Druck der Welt auf die Hamas zu erhöhen, endlich aufzugeben und so den Krieg zu beenden.

Kampf ums Überleben

Am 25. Dezember feierten Christen in aller Welt die Geburt eines jüdischen Kindes. Am selben Abend wurde die erste Chanukkakerze entzündet. Für Kfir und seine Familie und alle anderen Geiseln war es Tag 445 in Dunkelheit. Und jeder einzelne dieser Tage ist ein Kampf ums Überleben. Auch für Kfirs Tante Ofri. Ihr gellen noch die Worte ihres Bruders Yarden Bibas in den Ohren, der am 7. Oktober versuchte, seine kleinen Kinder in einem Schutzraum im Kibbuz Nir Oz still zu halten, um die Mörder vor der Tür nicht auf sie aufmerksam zu machen. Nicht nur in Schoa-Überlebenden steigen Erinnerungsbilder aus einer Zeit auf, die es nie wieder geben sollte.

»Ich liebe dich« schrieb Kfirs Vater kurz noch an seine Schwester und dann: »Jetzt sind sie da.« Seither steht für sie die Zeit still. Jeden Tag werde es schlimmer, sagte Ofri kürzlich in einem Interview.
Alle Freunde und Angehörigen leben so. Jede noch so winzige Notiz über Verhandlungen lässt sie Hoffnung schöpfen, jedes Scheitern schickt sie zurück in die Hölle. Die Geiseln sind für die Hamas ein unschätzbares Pfand, und die Qual der Angehörigen ist Teil ihrer Kriegsführung.

»Wir dürfen nicht aufgeben«, hatte die Mutter von Rom Braslavski gerade beim Gedenkmarsch in Berlin gefleht. Mit erloschenem Gesicht hielt sie das Foto ihres Sohnes hoch. Doch der Weihnachtsmarkt gegenüber war zu besinnlich, als dass sich die Menschen hätten stören lassen wollen.
100 Geiseln, darunter der kleine rothaarige Kfir, deren Schreie nicht nach außen dringen: Um sie aus der Dunkelheit zu retten, braucht es mehr als ein Wunder. Es braucht uns alle, die wir nicht aufhören dürfen, unsere Stimme zu erheben.

Am 18. Januar würde Kfir seinen zweiten Geburtstag feiern.

Der Autor ist freier Journalist und Träger der Buber-Rosenzweig-Medaille.

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