Ramat Aviv

Störfaktor Chabad

Straßenaktion: Chabad wirbt in Israel und weltweit für das Anlegen von Gebetsriemen. Foto: Sabine Brandes

Ramat Aviv

Störfaktor Chabad

Säkulare Einwohner protestieren gegen religiöse Aktivitäten in ihrem Stadtteil

von Sivan Wüstemann  07.06.2010 16:25 Uhr

Freitagmittag, viertel nach zwölf. Der Schabbat steht vor der Tür, langsam versiegt der Stress der Woche. In Ramat Aviv allerdings wogen so kurz vor dem Wochenende Wellen der Wut, wenn die zwei Gruppen vor Schulen und in Parks aufeinandertreffen: Auf der einen Seite stehen besorgte Einwohner und Eltern, auf der anderen die Mitglieder der orthodoxen Bewegung Chabad Lubawitsch. Immer wieder freitags probieren Männer in dunklen Anzügen mit Hüten und Bärten, junge Leute zum Gebet oder Torastunden einzuladen und versuchen Eltern gleichzeitig, ihre Kinder vor den Bekehrungsversuchen zu schützen. Der säkulare Tel Aviver Stadtteil ist Hochburg reicher SUV-Fahrer, doch ebenso alteingesessener Linksliberaler, Künstler und Studenten. Vor einer Woche kritisierte Tel Avivs Bürgermeister Ron Huldai das Vorgehen von Chabad. Jetzt machte die Bürgerinitiative »Freies Ramat Aviv« ihrem Unmut bei einer Demonstration Luft.

Die Chabad-Bewegung ist weltweit aktiv. Ihre Mitglieder sprechen Juden auf der Straße an, Männern helfen sie, Gebetsriemen anzulegen, Frauen geben sie Schabbatkerzen mit, sie laden zum Unterricht und Feiern ein. Viele Kritiker werfen der Bewegung Sektierer- und Missionartum vor, das in anderen Strömungen des Judentums verpönt ist.

Bürgerinitiative In Ramat Aviv mag man keine Bekehrer. »Wir alle leben seit 60 Jahren hier zusammen in Frieden. Die müssen nicht kommen und uns erzählen, dass sie die besseren Juden sind«, sagt Sharon Becker von »Freies Ramat Aviv«. Die Bürgerinitiative wurde vor einem Jahr mit dem Ziel gegründet, den Chabadniks zu untersagen, Kinder und Jugendliche anzusprechen. »Wir haben kein Problem mit religiösen Menschen«, macht sie sofort klar, »nur mit den Methoden von Chabad in unserem Stadtteil.« Warum? »Weil sie hundertprozentig darauf aus sind, den säkularen Charakter von Ramat Aviv zu verändern und unsere Kinder abfangen, um sie zu religiösen Eiferern zu machen. Und wir wollen das nicht.«

Das Chabad-Zentrum in Ramat Aviv existiert bereits seit 14 Jahren. Vor zwei Jahren jedoch seien die Methoden immer extremer geworden, so die Sprecherin der Bürgerinitiative. »An Freitagabenden treffen sich viele Jugendliche am Schuster-Einkaufszentrum. Plötzlich waren auch die Chabadniks da, stellten einen Tisch mit Wein und Süßigkeiten auf und begannen, unsere Kinder zu bequatschen. Es ist schrecklich, die Kinder suchen nach Identität, und dann kommen die mit ihrer Gehirnwäsche.«

Außerdem würden ihre Auftritte immer mehr zur Propaganda verkommen, ist Becker sicher. »Es hat nichts mit gewöhnlichem religiösen Leben zu tun, damit hätten wir überhaupt kein Problem, doch wenn sie ständig auf der Straße und im Supermarkt krakeelen, ›Der Maschiach kommt bald‹ oder die Musik aus ihren Lieferwagen plärrt, ist das extrem störend.«

Knesset Der Knessetabgeordnete Nitzan Horowitz von der Meretz-Fraktion hat mitdemonstriert. Er betonte, dass sich die Kampagne nicht gegen Charedim generell richte. »Stattdessen geht es um Organisationen, die das Leben der Anwohner durch illegale Methoden stören.« Horowitz hatte vor einer Weile eine Petition in der Knesset eingereicht, die es Fremden verbieten solle, Minderjährige ohne Erlaubnis der Eltern anzusprechen, ihnen etwas anzubieten, seien es Tefillin, Seminare oder Bonbons. Die Petition scheiterte. Chabad-Sprecher Rabbi Menachem Brod meint, dass ein Journalist wie Horowitz nicht gegen die Meinungsfreiheit vorgehen solle. »Denn die gibt Menschen die Möglichkeit mit ihrem Erbe bekannt zu werden.« Auch der Oberrabbiner Yona Metzger stellt sich hinter Chabad: Er kritisierte die Bürgerinitiative und ist überzeugt, der Konflikt in Ramat Aviv »ist das größte Kompliment, das den Erfolg der Chabad-Aktivitäten bescheinigt«.

Ein Chabad-Mitglied, das sich nur Avi nennen möchte, ist sicher, dass jedoch die demonstrierenden Leute lediglich einen kleinen Teil der Bevölkerung in Ramat Aviv darstellen, dass die Mehrzahl der Menschen für Chabad sei. »Wir bringen den Menschen viel Gutes, helfen überall, und das sehen sie«, sagt der Mann, der selbst von der Bewegung zur Religion gebracht wurde. Früher war er säkular und lebte in Beer Schewa. Ob er es richtig finde, Kinder ohne Zustimmung von Erziehungsberechtigten anzusprechen und einzuladen? »Ja, denn wir zwingen doch niemanden, sondern bieten es nur freundlich an, weil wir daran glauben, allen Juden etwas mehr Jüdischkeit bringen zu müssen.«

Kritik »Wir sind an einem Punkt angekommen, wo säkulares und religiöses Judentum nicht mehr dieselbe Religion zu sein scheinen«, gab Stadtratsmitglied Reuven Ladiansky auf der Demonstration zu bedenken, »doch wir haben genug. Keine religiöse Nötigung mehr, sondern das Motto: ›Leben und leben lassen!‹.« Becker stimmt dem zu, ist jedoch zugleich betroffen über Anfeindungen, die Initiative sei antijüdisch. »Quatsch! Wir lassen sie in Ruhe, wenn sie uns in Ruhe lassen. Wir wollen hier einfach nur in einer pluralistischen Gesellschaft leben, in der alle so akzeptiert werden, wie sie sind, ohne dass einer den anderen ändern will.«

Nachruf

Trauer um Hollywood-Legende Arthur Cohn

Arthur Cohn war immer auf der Suche nach künstlerischer Perfektion. Der Schweizer Filmproduzent gehörte zu den erfolgreichsten der Welt, wie seine Oscar-Ausbeute zeigt

 12.12.2025

Jerusalem

Netanjahu plant Reise nach Kairo für milliardenschweren Gasdeal

Der Besuch bei Präsident Abdel-Fattah al-Sissi wäre historisch. Aus dem Umfeld des Premierministers kommt aber zunächst ein Dementi

 12.12.2025

Chanukka

Alles leuchtet!

Nach besonders schwierigen Jahren lässt die Stadtverwaltung Tel Aviv in vollem Glanz erstrahlen und beschert ihren Einwohnern Momente des Glücks

von Sabine Brandes  12.12.2025

Vermisst

Letzte Reise

Die am 7. Oktober von der Hamas nach Gaza verschleppte Leiche von Sudthisak Rinthalak wurde an Israel übergeben und nach Thailand überführt

von Sabine Brandes  12.12.2025

Gaza

Neue Aufnahmen: Geiseln feierten vor ihrer Ermordung Chanukka

Carmel Gat, Eden Yerushalmi, Hersh Goldberg-Polin, Ori Danino, Alexander Lobanov und Almog Sarusi begangen sie im Terrortunnel das Lichterfest. Einige Monate später werden sie von palästinensischen Terrroristen ermordet

 12.12.2025

London

Nach 26 Monaten: Amnesty wirft der Hamas Verstöße gegen das Völkerrecht vor

Die Organisation brauchte viel Zeit, um bekannte Tatsachen zu dokumentieren. Bisher hatte sich AI darauf konzentriert, Vorwürfe gegen Israel zu erheben

von Imanuel Marcus  12.12.2025

Nahost

USA verlangen von Israel Räumung der Trümmer in Gaza

Jerusalem wird bereits gedrängt, im Süden der Küstenenklave konkrete Maßnahmen einzuleiten

 12.12.2025

Meinung

Nemo unverbesserlich

Nemo gibt mit Rückgabe der ESC-Siegertrophäe auch Haltung ab. Statt Rückgrat zu zeigen, schwimmt das Schweizer Gesangswunder von 2024 im postkolonialen Strom mit

von Nicole Dreyfus  12.12.2025

Andrea Kiewel

Ein Weltwunder namens Regen

Jedes Jahr im Dezember versetzt der Regen die Menschen in Israel in Panik - dabei ist er so vorhersehbar wie Chanukka

von Andrea Kiewel  11.12.2025 Aktualisiert