Interview

»Macht euch ein eigenes Bild«

»Ursache und Wirkung werden verwechselt«: Shir Gideon Foto: ZUNTZ ZUNTZ

Interview

»Macht euch ein eigenes Bild«

Shir Gideon über die deutsche Israel-Berichterstattung, Corona und ihre Familiengeschichte

von Ingo Way  09.08.2021 08:34 Uhr

Frau Gideon, nach drei Jahren als Pressesprecherin der Israelischen Botschaft in Berlin sind Sie jetzt nach Israel zurückgekehrt. Welches Ereignis ist Ihnen aus dieser Zeit besonders im Gedächtnis geblieben?
Da gab es so viele. Einmal haben wir den damaligen Außenminister Gabi Aschkenasi in Berlin empfangen, und bei diesem Besuch ist er zum ersten Mal mit seinem Amtskollegen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammengetroffen, und zwar am Holocaust-Mahnmal. Das war schon etwas Besonderes. Als wir in den Ausstellungsraum hinuntergegangen sind, klingelte mein Telefon, und ich habe zunächst die Vorwahl nicht erkannt. Es war die Vorwahl von Dubai! Ein Journalist von »Dubai TV« rief mich an und fragte, ob ich ein Interview mit dem israelischen Botschafter vermitteln kann – in Deutschland. Das war einer der Höhepunkte für mich. Ich stehe also im Holocaust-Mahnmal mit drei Außenministern, das war ein beeindruckender Augenblick.

Welche Bilanz ziehen Sie insgesamt nach diesen drei Jahren?
Es war eine sehr interessante Zeit. Wir haben ein sehr gutes Team in der Botschaft, das sehr gut mit der Bundesregierung zusammengearbeitet hat. Ich habe die guten Beziehungen zwischen Deutschen und Israelis gesehen, und das ist mir sehr wichtig. Unser Ziel ist, die Bevölkerungen einander näherzubringen. Es gab schon eine sehr gute Basis dafür, bevor ich gekommen bin, aber ich habe auch die weitere Entwicklung gesehen. Und es gibt sehr viele junge Journalisten, die sehr an Israel interessiert sind.

Wie war Ihr Eindruck von der Israelberichterstattung in deutschen Medien?
Ich war zum ersten Mal Pressesprecherin einer Botschaft, ich kann die Erfahrung in Deutschland also nicht mit anderen Ländern vergleichen. Aber ich denke schon, dass es hier ein großes Interesse gibt an dem, was in Israel passiert. Quantitativ gibt es sehr viele Berichte. Und qualitativ ist die deutsche Presse top-professionell. Es gibt den Versuch, objektiv zu sein, aber da heute vieles sehr schnell gehen muss, durch Online-Journalismus oder die Konkurrenz mit anderen Medien, kommt es auch manchmal zu Fehlern. Zum Beispiel werden, wenn Raketen aus Gaza abgefeuert werden und Israel darauf reagiert, Ursache und Folge manchmal verwechselt. Ein paarmal habe ich in Redaktionen angerufen und zum Beispiel darauf hingewiesen, dass der »Iron Dome« nicht dem Angriff, sondern der Verteidigung dient. Und meistens verstehen sie das dann auch und drucken eine Korrektur. Das mache ich natürlich nur, wenn etwas faktisch nicht korrekt ist. In den letzten Jahren merken wir auch, dass sich das Paradigma im Nahen Osten verändert hat, aber viele Journalisten gedanklich noch nicht nachkommen.

Inwiefern?
Der Nahe Osten ist nach den Abraham-Abkommen ein ganz anderer als vor fünf Jahren. Aber das Paradigma in vielen Köpfen hat sich noch nicht verändert. Seit Jahrzehnten wird über den Nahostkonflikt unter einem bestimmten Blickwinkel berichtet, und heute ist die Realität anders. Es dauert, bis wirklich begriffen wird, was sich verändert hat.

Was könnte da von journalistischer Seite besser gemacht werden?
Es müsste mehr Austausch geben, aber das ist zurzeit durch Corona noch schwieriger geworden. Es fehlt, dass deutsche Journalisten einfach nach Israel fliegen können. Vorher konnte man morgens einen Flug buchen und in ein paar Stunden in Tel Aviv sein. Junge Journalisten sollten nach Israel gehen und sich ein eigenes Bild machen. Das fehlt heute, natürlich nicht nur zwischen Israel und Deutschland, sondern es betrifft die ganze Welt. Wenn man mit eigenen Augen sieht, wie klein das Land ist, man die Menschen und die Kultur kennenlernt, dann bekommt man eine andere Perspektive.

Liegen die Einseitigkeiten, die sie genannt haben, wirklich nur an Nachlässigkeit, oder steckt nicht oft auch ein Programm dahinter?
Es gibt sicher beides. Und vieles hat sich verbessert. Bis vor einigen Jahren wurde fast nur über den Konflikt berichtet, zum Teil sehr einseitig, heute gibt es so viele andere Themen: Cybersecurity, die wirtschaftliche Entwicklung, Hightech, aber auch Esskultur oder Tourismus. Während der zweiten Intifada war die Berichterstattung noch ganz anders. Ich bin optimistisch.

Was ist der Unterschied in der Mentalität und Arbeitsweise zwischen deutschen und israelischen Journalisten?
Der Journalismus arbeitet in beiden Ländern ähnlich. In Israel ist die Alltagskultur sehr schnell, und im Journalismus ist es genauso: Die Nachrichten treffen sehr schnell ein. Wir leben in einer Region, wo sich von einer Minute auf die andere etwas verändern kann. Die Bevölkerung und die Journalisten leben sozusagen in einer gemeinsamen Geschwindigkeit. In Deutschland ist man Stabilität gewöhnt. Auch hier sind Journalisten schnelles Arbeiten gewöhnt, aber die Bevölkerung lebt in einer anderen Geschwindigkeit, es gibt lange Wochenenden, eine Freizeitkultur. Journalisten fühlen sich in Deutschland vielleicht ein bisschen mehr isoliert von der Bevölkerung.

Trägt das bei Journalisten in Deutschland zu einem gewissen Elitenbewusstsein bei?
Journalisten sind hier sehr gut ausgebildet, und es gibt auch dieses Bewusstsein, vor allem in den öffentlich-rechtlichen Sendern, dass man nicht nur die Verantwortung hat, objektiv Informationen zu vermitteln, sondern auch die Bevölkerung demokratisch zu bilden. Das ist hier sehr wichtig.

Was hat es für Sie bedeutet, als Enkelin von Schoa-Überlebenden nach Deutschland zu kommen?
Die persönliche Verbindung mit der Vergangenheit hat meine Arbeit hier in Deutschland sehr besonders gemacht. Meine Geschichte fängt zum einen als deutsch-jüdische Geschichte an, denn meine Großeltern väterlicherseits sind hier aufgewachsen und haben Deutschland vor dem Krieg verlassen. Ich kam mit gemischten Gefühlen hier an, denn ich habe zwar diese deutsche Ecke in meinem Herzen, aber die Mehrheit meiner Familie wurde dennoch im Holocaust verfolgt und ermordet.

Haben Sie vorher schon Deutsch gesprochen?
Ein bisschen. Meine Großeltern hatten in Israel ein sehr deutsches Zuhause und haben untereinander deutsch gesprochen. Ich bin die dritte Generation, ich habe sehr wenig verstanden. Aber nachdem sie gestorben waren, habe ich mich als Studentin entschieden, Deutsch zu lernen. Dann bin ich Diplomatin geworden, bin in den Senegal geschickt worden und habe dort Französisch gelernt. Und kurz bevor wir dann nach Deutschland gegangen sind, habe ich beschlossen, mein Deutsch wieder zu aktivieren.

Wie nehmen Sie den ansteigenden Antisemitismus in Deutschland wahr?
Mir persönlich sieht man auf der Straße nicht an, dass ich Jüdin bin. Ich selbst fühle mich sicher, aber ich weiß, dass das nicht die Situation vieler deutscher Juden ist. Ich hoffe, dass die Menschen verstehen, dass Antisemitismus nicht nur ein Problem der Juden in Deutschland ist. In der Regierung gibt es genug Leute, die das Problem ernstnehmen, aber es gibt noch sehr viel zu tun. Ich habe ein so großes Spektrum an Antisemitismus gesehen, von der Benutzung von Holocaust-Symbolen auf Querdenker-Demos, über das Verbrennen von Israelflaggen bis zum Anschlag in Halle. Das betrifft nicht nur einen Teil der Gesellschaft. Aber auch das Verständnis für das Problem wächst.

Was war in diesem Zusammenhang Ihr schockierendstes Erlebnis?
Eine der schwierigsten Erfahrungen, die ich in Deutschland gehabt habe, war im Oktober 2019, der Morgen nach dem Anschlag in Halle. Ich bin mit dem Botschafter dort hingefahren und habe gesehen, wie erschüttert die Leute waren über das, was passiert ist und was noch hätte passieren können. Dazu kommt noch meine Erinnerung an die Zweite Intifada, als ich noch ein junges Mädchen war: Das waren ähnliche Bilder. Und hinzu kommt die Geschichte, der Holocaust ist quasi gestern passiert, und dann ein so schlimmer Anschlag auf eine Synagoge in Deutschland, das hätte ich mir nicht vorstellen können.

Einer Ihrer Großväter war im KZ Buchenwald inhaftiert. Haben Sie auch die dortige Gedenkstätte besucht?
Ich wollte eigentlich an der Großveranstaltung zu 75 Jahren Befreiung teilnehmen, aber dann kam Corona. Jetzt bin ich mit meiner Mutter zum ersten Mal dort hingefahren und konnte mir annähernd vorstellen, durch welche Hölle mein Großvater gegangen ist. Er wurde in der Slowakei verhaftet und nach Auschwitz gebracht und von dort aus nach Buchenwald.

Haben Sie auch die Wurzeln Ihrer deutschen Vorfahren erkundet?
Ja, in Bayern und Baden-Württemberg habe ich die Gräber meiner Vorfahren gefunden. Ich war auch in den Geburtsorten meiner Großeltern. Meine Großmutter kommt aus einem kleinen Ort in Oberfranken, nicht weit von Würzburg, und mein Großvater aus Rexingen in der Nähe von Stuttgart. In Israel haben sie dann mit anderen Auswanderern aus Rexingen das Dorf Schawe Zion gegründet. In Rexingen gab es eine sehr schöne Synagoge, die sie in Schawe Zion so ähnlich nachgebaut haben. Ich bin auf den Spuren meines Ururgroßvaters durch Würzburg gegangen, der dort Lehrer in der jüdischen Gemeinde war. Das war sehr beeindruckend.

Wissen Sie schon, wie es beruflich mit Ihnen weitergeht?
Ich werde erst einmal im Außenministerium in Israel arbeiten, und dann mal sehen. Die Welt ist groß.

Mit der ehemaligen Pressesprecherin der Israelischen Botschaft sprach Ingo Way.

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