Prävention

Die andere Pandemie

Kundgebung für die Opfer von häuslicher Gewalt auf dem Tel Aviver Rothschild-Boulevard im November 2020 Foto: Flash 90

Im Judentum ist das Heiraten besonders wichtig. Laut der Tora soll die Intimität die Verbindung der Ehepartner und den häuslichen Frieden stärken. Auch Shira Amsalem aus Netanja träumte davon. Doch nach ihrer Heirat wurde ihr Zuhause zum Tatort. Der eifersüchtige Ehegatte verprügelte sie täglich. Als er einmal mit einer Flasche auf sie einschlug, verletzte er sie so schwer, dass sie eine Zeit lang in Lebensgefahr schwebte. »Meine Ehe war die Hölle«, erzählt die 41-jährige Webdesignerin.

Häusliche Gewalt ist ein internationales Phänomen, und selbst wenn jüdisches Recht diese Unterdrückung verbietet, tritt sie auch in Israel verstärkt auf. »Ich hatte noch Glück«, sagt Amsalem. »Mit Prävention – wie bei der Terrorbekämpfung – könnte man dagegen vorgehen.«

Tatsächlich wollen einige israelische Hightech-Unternehmen demnächst verschiedene Apps zur Vorbeugung gegen die Pandemie der häuslichen Gewalt präsentieren. Während das Land jedoch Technologien nutzt, um Bereiche wie Cybersicherheit oder Militär weiterzuentwickeln, war das Leben von Frauen vor einiger Zeit noch kaum auf dem Radar. Bis ein Tod alles veränderte. Im Oktober 2019 erschütterte der Mord an der 32-jährigen Michal Sela aus Jerusalem den jüdischen Staat, als ihr Ehemann sie vor den Augen ihres acht Monate alten Babys brutal erstach.

GRÜNDUNG Als während der Covid-Pandemie die Gewalt gegen Frauen anstieg, gründete Lili Ben Ami, Michals Schwester, das »Michal Sela Forum«, eine gemeinnützige Organisation mit dem Ziel, Technologien einzusetzen, um solche Verbrechen zu stoppen. »Gewalt in der Ehe ist ein weltweites Problem, mit einem immer wiederkehrenden Schema«, sagt Ben Ami. »Gegen diese Strukturen muss man vorbeugen.«

Bei beunruhigenden Geräuschen wird automatisch die Polizei verständigt.

Kurz nach Gründung des Forums, das zahlreiche Experten aus Sicherheit und Technik zu einem interdisziplinären Dialog zusammenbrachte, veranstaltete Ben Ami mit Unterstützung der Regierung den »Safe@Home Hackathon«. In dieser Ideenkonferenz kamen Start-up-Spezialisten zusammen, die sich damit befassten, Tools zur Erkennung, Bekämpfung und Prävention von häuslicher Gewalt zu entwickeln. Unterstützt von zahlreichen Technologiegiganten, wählte eine Jury die zehn besten Ideen zur weiteren Förderung aus. Ziel des Prozesses ist es, jede Idee einem Gremium potenzieller Investoren aus Israel und anderen Ländern zu präsentieren.

IDEEN Unter den Gewinnern des Hackathons ist die App »Stay Tuned«, mit der Missbrauchsopfer die Möglichkeit bekommen, einen Notfall zu melden. Mithilfe von Spracherkennung und Künstlicher Intelligenz zeichnet sie alarmierende Geräusche auf, die häusliche Gewalt erkennen lassen, und benachrichtigt sowohl die Polizei als auch eine Liste mit vordefinierten persönlichen Kontakten. Mit einer ähnlichen Technik funktioniert auch »Safe and Sound«. Die App erkennt ein vorbestimmtes gesprochenes Codewort und benachrichtigt dann die ausgewählten Kontakte des Benutzers.

Ein weiterer Finalist ist »Hear me«. Damit können Nachbarn laute Streitgespräche aufnehmen, die dann mithilfe von Künstlicher Intelligenz von der Polizei als potenziell gewalttätig eingestuft werden können. Großes Interesse erweckte auch »Wonder Jewel«, eine Kollektion von 3D-gedruckten Schmuckstücken, die mit dem Internet verbunden sind und auf Knopfdruck ein Notsignal senden.

Zum ersten Mal wird im jüdischen Staat das Thema häusliche Gewalt mit Hightech verbunden. Auf Anraten des Michal Sela Forums hat Israel das Problem sogar als erstes Land der Welt zur nationalen Sicherheitsfrage erklärt. »Unser Ziel ist es, technologische Lösungen voranzubringen«, sagt Ben Ami. »Der Mord an Michal hat viele Fragen aufgeworfen. Meine Recherchen zeigen klar, dass die Prävention von häuslicher Gewalt weit hinterherhinkt.«

Das Problem kann natürlich nicht nur mithilfe von Technologie gestoppt werden. In einem Land wie Israel mit einer großen russisch- und arabischsprachigen Bevölkerung könnten Sprachbarrieren ein Hindernis sein. Bei den ultraorthodoxen Juden, die Smartphones teilweise ablehnen, werden die Herausforderungen noch deutlicher. Auch hat die Verbreitung von Smartphones und sozialen Medien es den Tätern leichter gemacht, ihre Opfer zu überwachen und zu kontrollieren.

REGIERUNG »Technologie kann bei Lokalisierung helfen«, sagt Michal Gera Margaliot, Geschäftsführerin des Israel Women’s Network. »Doch Gewalt gegen Frauen ist leider kein Tetris-Spiel, bei dem man einen Block an der richtigen Stelle platziert und die ganze Reihe verschwindet.« Im Kampf gegen häusliche Gewalt müsse mehr getan werden: »Das sind aufwendige, langfristige Prozesse, die auch auf Regierungsebene stattfinden müssen.« Die Feministin erwähnt ein Regierungsprogramm zur Bekämpfung häuslicher Gewalt, das schon 2017 genehmigt, aber nicht umgesetzt wurde, und sagt: »Wir unterstützen Ben-Ami, beobachten aber kritisch die Entscheidungen der Politiker.«

Die Bekanntgabe der Gewinner des Hackathons fand kurz vor Ende der Amtszeit von Reuven Rivlin in der offiziellen Residenz des Präsidenten in Anwesenheit weiterer Regierungsbeamter statt. »Dies zeigt, dass häusliche Gewalt ein zentrales Thema ist«, sagt Michal Gera Margaliot.

Mittlerweile hat Lili Ben Ami ihr Anliegen per Videokonferenz auch zahlreichen UN-Botschaftern vorgetragen und plant, die Aktivitäten ihre Organisation zu internationalisieren. Zwar steht das Michal Sela Forum noch am Anfang seines Weges, doch als treibende Kraft für die Entwicklung neuer Technologien gegen häusliche Gewalt ist der erste Schritt getan.

»Israel wird sich bewusst, wie wichtig Hightech gegen häusliche Gewalt ist«, sagt auch Shira Amsalem aus Netanja. Inzwischen selbst im Forum aktiv, fordert sie eine Zielmarke für die Prävention: »Null Morde pro Jahr.« Trotz ihres Schicksals glaubt sie aber weiterhin an die Liebe und das Eheglück: »Der neue Mann wird mir Freude bereiten.«

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