Schweiz

Das Leben feiern

Immer wieder das gleiche Spiel zwischen Moshe und mir, wenn es um den Eurovision Song Contest (ESC) geht. Sage ich, 2014: »Na, kein Wunder, dass es fürs große Finale nicht gereicht hat, hat zwar super gesungen mit ihrem dunklen Timbre, aber das Lied von Mei Feingold war wirklich schwach.« Er, mein bester israelischer Eurovision-Freund aus einem Vorwort von Haifa, erwidert nur: »Klare Sache, Europa hat mal wieder seinen Antisemitismus gezeigt.«

Sie war ja damals in unwürdiger Gesellschaft: Schon die große Dana International hatte es 2011 nicht über die Vorrunde hinaus geschafft, auch Izabo und Moran Mazor fanden in den beiden Jahren danach keine Gnade in ihrer Qualifikationsrunde. Israel musste also 2014 zum viertem Mal in Folge beim Grand Finale am Samstag außen vor bleiben.

So hakte ich nach: Ist es möglich, dass diese Acts eher unisraelisch klangen, so verwechselbar, fast belanglos? Moshe sprang auf, ich erinnere mich genau, und rief laut: »Das ist ja die Tragödie – Israel beim ESC klingt immer mehr wie alle anderen, ist doch klar, dass wir dann auf der Strecke bleiben.«

Israel hängt am ESC wie an der Nadel

Das war mal anders, ganz anders. Israel gelangte erstmals 1973 zum Eurovision Song Contest, das war in Luxemburg. Die Sängerin Ilanit hatte zu dieser Zeit in Europa schon häufiger TV-Auftritte. Ihr Lied »Ey sham« soll sie damals, kurz nach dem Olympia-Massaker 1972 in München, mit schusssicherer Weste unter ihrer sehr schönen Garderobe vorgetragen haben. Ob nur eine gruselbehaftete Überlieferung oder doch wahr: Die blonde Sängerin schaffte beim Debüt ihres Landes den vierten Platz, und Israel hängt seither am ESC wie an der Nadel.

Die israelischen Straßen sind beim ESC so gut wie leergefegt. Man guckt, wie Israel durch Europa bewertet wird, mal zu schwach, mal angemessen ganz weit vorn. Dabei ist es gar kein Wettbewerb von Ländern, sondern einer der Sender, früher der IBA (Israel Broadcasting Authority) und seit einigen Jahren des Senders KAN. Was keine Rolle spielte. Wie in allen anderen ESC-Ländern, so auch in Israel: Die Eurovision war eine Art Europameisterschaft des Pop. Israel ist dabei – nach meiner Beobachtung in fast 30 Jahren als journalistischer Reporter – das außergewöhnlichste Land in der ESC-Community.

Ganz gleich, wie am Ende ein Künstler, eine Künstlerin oder eine Band aus diesem Teil des Eurovision-Kontinents abschneidet, Israels Delegationen waren über alle Jahre von einer Professionalität, von einer Ernsthaftigkeit und Hingabe zugleich geprägt, die der damals noch sehr junge Nadav Guedj so beschrieb: »Es ist eine große Chance, diese Eurovision. Man muss alles tun, um auf der Bühne zu bestehen. Ich als Künstler weiß, dass alle in meinem Land hinter mir stehen – aber wehe, es gibt keine Punkte, das wäre eine Blamage.« So geht es wahrlich nicht in allen Ländern.

Israelische ESC-Präsentationen an den Gastgeberorten waren schon zu einer Zeit keine angefrosteten Stehempfänge mehr, als dies noch üblich war, sondern eben Partys, chaotische, auf Trinkfestigkeit geeichte Feste, bei denen viel gesungen wurde, was satt und selig machte, wo eigentlich nüchterne Promotion angesagt war. In all meinen Jahren habe ich es nicht einmal erlebt, dass ein israelisches Delegationsmitglied um Sympathien buhlte – auch das unterschied dieses Land von allen anderen.

Israel feierte beim ESC fröhliche Partys, als noch frostige Stehempfänge angesagt waren.

Und dann die Lieder. Manche etwas dürftig, aber überwiegend waren israelische Acts Shows auf der Höhe ihrer zeitgenössischen Kunst. Schnulzen wurden besonders inbrünstig dargeboten, Dancehall-Mucke besonders tanzbar gezeigt, der erste israelische ESC-Sieger Izhar Cohen 1978 trat mit dem doch etwas albernen Titel »A-Ba-Ni-Bi« auf.

»Wir wollten etwas bieten, was wir als Israelis können«

2019 in Tel Aviv, als der ESC-Tross nach Netta Barzilais Sieg 2018 mit »Toy« Station machte, erzählte mir Cohen: »War doch klar, damals: Wir wollten etwas bieten, was wir als Israelis können – im Moment schwierigster politischer und kultureller Umstände dem Leben zugeneigt bleiben, das Leben feiern.« Im Übrigen, so Cohen, müsse der Wurm dem Fisch schmecken – und darüber mache man sich in seiner Heimat immer Gedanken.

Und wie! Israels Bühnenshows beim ESC hatten immer etwas attraktiv Lebendiges. Sie konnten alle singen, tanzen – und die Choreografien saßen auch fast allesamt perfekt, vom Künstler bis zur Chorus Line. Israels ESC-Leute brachten bislang vier Siege mit nach Hause, eben 1978 durch Izhar Cohen, 1979 gleich nochmal mit dem Klassiker »Hallelujah« von Gali Atari und Milk & Honey, 1998 die grandiose Dana International mit »Diva« und 2018 die bereits genannte Netta.

Dazu noch eine Fülle vorderer Ränge, knapp verpasster Siege und auch einige herbe Enttäuschungen, etwa 1990 Rita, ein Star in Israel, die ihr tragödisches Stück exzellent performte, aber ihre Botschaft wurde von den Jurys missachtet.

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War das Antisemitismus? Bis in die jüngste Zeit gab es niemanden im eurovisionären Europa, der einen Ausschluss Israels gefordert hätte – schon gar nicht andere Künstler und Künstlerinnen. Im Gegenteil, Israel genoss beim ESC heimliche oder offene Bewunderung: die professionellsten Teams, die besten Partys und seit Jahren auch eine Szene in Tel Aviv, aus deren Mitte Komponisten und Produzenten wie Doron Medalie hervorgegangen sind. Hipster im Profigewand, die, etwa mit Netta Barzilais »Toy«, cool vom Sound her ins Eurovision-Kleid hüllten, was gerade an den Stränden des Mittelmeers angesagt war: lebensfrohe Tanz- und Trancemusik.

Ein gelobtes Land mit manchen Pannen

Israel – das war ein gelobtes Land mit manchen Pannen, auch mal mit weniger guten Songs, die im Halbfinale stecken blieben … aber das mit fröhlicher Würde. Dass Eden Golan voriges Jahr in Malmö so gut wie nichts von den Festtagen hatte, sondern durch Sicherheitsleute abgeschirmt bleiben musste, ist mit das übelste Vergehen auch der ihr nicht zur Seite stehenden ESC-Kolleginnen und -Kollegen aus der Schweiz, Irland, Griechenland und den Niederlanden.

Früher waren Israels Delegationen die beliebtesten, weil feierfreudigsten in der ESC-Crowd vor Ort. Und stimmte das denn damals mit dem Antisemitismus, was mein Freund Moshe für naheliegend hielt? Ich vermute stark: Er irrte. Im Jahr darauf, 2015 in Wien, schaffte Nadav Guedj mit der feinsten Tanznummer des ESC den neunten Platz. Er feierte auf der After-Show-Party wie ein Sieger, und das war er auch: ein israelischer Kämpferjunge, an den nur wenige so recht geglaubt hatten.

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