Nachruf

Die Freundin der Kinder

Alice Miller, 1923 – 2010 Foto: dpa

»Das Kind ist immer unschuldig.« Mit diesem Satz aus ihrem wichtigsten Buch Das Drama des begabten Kindes hat Alice Miller selbst ihr theoretisches Programm vielleicht am prägnantesten umschrieben. Kindheitsforscherin nannte sich Miller, auf keinen Fall durfte man sie Psychoanalytikerin nennen.

Alice Miller wurde 1923 im damals zu Polen gehörenden Lemberg geboren. Sie studierte unter anderem an der Geheimen Universität Warschau während des Zweiten Weltkriegs. 1953 promovierte sie mit einer psychologischen Arbeit in Basel. Danach wurde Miller in freudianischer Psychoanalyse ausgebildet und arbeitete in einer eigenen Praxis. Erst in den 80er-Jahren vollzog sie den Bruch mit Sigmund Freud. »Meine persönlichen Erfahrungen halfen mir schließlich zu begreifen«, schrieb sie einmal, »dass die Psychoanalyse die neuen Erkenntnisse über die Kindheit niemals integrieren wird, weil sie es ihrem Wesen nach nicht kann.« Freud habe, warf sie ihm vor, das Leid, das Kinder früh erführen, als Fantasie abgetan. Dabei sei genau dies der Schlüssel zum Verständnis der Menschen: »In jedem noch so schrecklichen Diktator, Massenmörder, Terroristen steckt ausnahmslos ein einst schwer gedemütigtes Kind, das nur dank der absoluten Verleugnung seiner Gefühle der totalen Ohnmacht überlebt hat.«

Elvis presley Miller untersuchte die Biografien von Elvis Presley, Virginia Woolf, James Joyce, Franz Kafka, aber auch von Saddam Hussein auf Hinweise von frühkindlicher Kränkung. Fand Miller keine – das monierten ihre Kritiker –, sei das für sie bloß ein Indiz für besonders konsequente Verleugnung. Sogar Adolf Hitler und sein Handeln glaubte sie so erklären zu können.

Doch selbst Gegner zollten Alice Miller für ihre materialreiche Arbeit Respekt. Wie aktuell ihr großes Thema Kindesmissbrauch ist, zeigte sich gerade in den vergangenen Wochen. Doch Miller, die streitbare Kindheitsforscherin, konnte nicht mehr mitdebattieren. Anfang April teilte sie auf ihrer Website mit: »Es ist mir leider nicht mehr möglich, meine Tätigkeit auf dieser Seite fortzusetzen.« Starker Muskelverlust habe sie geschwächt, sie rechne mit ihrem baldigen Tod.

Alice Miller ist, wie erst Ende vergangener Woche bekannt wurde, am 12. April im Alter von 87 Jahren in der Provence gestorben. Die Beisetzung fand, wie der Suhrkamp-Verlag mitteilte, im engsten Kreis statt.

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024