Neuerscheinung

Nazi und Narziss

Selbstvermarkter: Josef Goebbels Foto: ullstein

Als Joseph Goebbels sich am 1. Mai 1945, einen Tag nach Adolf Hitler, der ihn in seinem Testament zum Reichskanzler ernannt hatte, im Garten der Berliner Reichskanzlei mit einer Pistole erschoss – die Rote Armee stand nur ein paar tausend Meter entfernt – war er 48 Jahre alt. In dieser relativ kurzen Lebensspanne hatte er es zu einem der maßgeblichen Verbrecher des Nationalsozialismus gebracht, für seinen bis heute wirkenden Nachruhm als angebliches Propagandagenie gearbeitet, sechs Kinder gezeugt und sie mit sich und seiner Frau umgebracht, weil »die Welt, die nach dem Führer und dem Nationalsozialismus kommt, nicht mehr wert ist, darin zu leben«.

persönlichkeitsstörung Diesem Goebbels widmet der in London lehrende Zeithistoriker Peter Longerich jetzt eine materialreiche Biografie. Die bereits umfassend bearbeitete Geschichte des Nationalsozialismus wird hier aus der Perspektive eines seiner prominentesten Täter dargestellt, wobei der Schwerpunkt auf dessen Hauptverantwortungsbereich Propaganda liegt.

Allerdings ist es bei Goebbels mit einer rein politischen Biografie nicht getan: Longerich schreibt auch die private Lebensgeschichte des im nieder-rheinischen Rheydt in kleinen, katholischen Verhältnissen geborenen engen Weggefährten Adolf Hitlers. Im Mittelpunkt steht dabei die schon von früheren Biografen beschriebene narzisstische Persönlichkeitsstörung Goebbels’, die ihn auf ständige Suche nach Anerkennung trieb. Die erhielt er schließlich von seinem »Führer«, den er dafür vergötterte. Hitler gewährte – berechnend dosiert – seinem wohl wichtigsten Zuarbeiter Anerkennung stets genau in dem Maß, das nötig war, um ihn zu Höchstleistungen anzustacheln.

Diese geschickte Manipulation, und nicht Ideologie, war Goebbels’ Hauptmotivation. Der »Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda« und NS-Gauleiter von Berlin hatte, so Longerich, eigentlich kein genaues ideologisches Programm. Sein politisches Denken, schreibt der Biograf, bestand im Kern aus einer »gehörigen Portion Nationalismus«, dem »Hass auf alles Jüdische« und sich in »antibürgerlichen Ressentiments erschöpfenden ›sozialistischen‹ Vorstellungen«.

selbstüberschätzung Der zeitgeschichtliche Mehrwert dieser neuen Biografie liegt vor allem darin, dass sie den bis heute ins Legendäre gesteigerten vermeintlichen Erfolg der Goebbelsschen Propaganda relativiert. Longerich entlarvt an vielen Stellen und immer gut belegt, dass deren angeblich grandioses Gelingen wesentlich das Ergebnis eigener Propaganda für diese Propaganda selbst war.

Der Narziss Goebbels hat – vor allem in seinen Tagebüchern – immer wieder von den Erfolgen seiner »Volksaufklärung« geschwärmt, obwohl die fast nie messbar und oft sogar erwiesenermaßen negativ waren. Longerich führt dabei vor allem das durch Hitler in den Jahren vor 1939 geforderte Schüren von Kriegsbegeisterung an, das Goebbels allen Anstrengungen zum Trotz eklatant misslang. Im deutschen Volk, so die Biografie, habe – bei aller sonstigen Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus – tiefe Friedenssehnsucht geherrscht.

Selbst nach den »Blitzkrieg«-Erfolgen der Jahre 1939 und 1940 erhoffte sich die Bevölkerung Frieden und nicht die Ausweitung des Krieges durch den Überfall auf die Sowjetunion. Goebbels, so Longerich, habe diese kollektive Gefühlslage nie ändern können. Seine hysterische Ausrufung des »totalen Krieges« nach Stalingrad sei mehr ein Trick gewesen, auch wohl eine seiner Persönlichkeitsstörung geschuldete Verwechslung von Wunsch und Wirklichkeit.

Erfolgreicher sei Goebbels allerdings bei der Aus- und Gleichrichtung der Volksgemeinschaft gewesen, von der allgemein verpflichtenden Einführung des »Deutschen Grußes« bis zur willfährigen Komplizenschaft bei der Entrechtung und dann folgenden Vernichtung der Juden.

Bei aller Relativierung seiner Wirkungsmacht bleibt Goebbels auch in Longerichs Biografie die loyalste Figur in Hitlers Führerstaat. Sein Größenwahn, sein Gewaltfanatismus und seine kriminelle Energie mögen in einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung ihren Ursprung gehabt haben. An Goebbels‹ Rolle als politischer Kapitalverbrecher historischen Ausmaßes ändert das nichts.

Peter Longerich: »Goebbels. Biografie«, Siedler, München, 2010, 912 S., 39,99 €

Karl Kraus

»Als ob man zum ersten und zum letzten Mal schriebe«

Zum 150. Geburtstag des großen Literaten und Satirikers

von Vladimir Vertlib  26.04.2024

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Der Regisseur möchte über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024