Ein Geburtstag ist für die meisten Menschen ein besonderer Tag, den sie mit Freunden, der Familie und einer Party begehen. Alexandra Julius Frölich steht an ihrem Geburtstag allein im leeren und abgedunkelten Theaterraum des Deutsch-Jüdischen Theaters Berlin, kurz: DJT. Ruhig lässt die 48-Jährige ihren Blick über die 75 Sitzgelegenheiten gleiten, mit denen der kleine Saal bestuhlt ist.
Eilends überfliegt die Theaterleiterin, die im Haus auch als Schauspielerin und Dramaturgin fungiert, das Manuskript für die bevorstehende Probe: ein literarisches Requiem für sechs Menschen, die unsere Welt zu verbessern suchten. »Eine szenische Lesung, die wir zu Ehren von sechs jüdischen Persönlichkeiten als Gedenkveranstaltung spielen«, erklärt Frölich. Jeder hat ein eigenes Jubiläum: Das Jahr markiert den 120. Geburtstag des Schriftstellers Elias Canetti sowie die Todestage der Philosophin Hannah Arendt (50.), der Dichterin Mascha Kaléko (50.), der Lyrikerin und Zeichnerin Else Lasker-Schüler (80.), des Autors Kurt Tucholsky (90.) sowie des Satirikers Ephraim Kishon (20.).
Die Sonne taucht das trubelige Geschehen draußen auf dem Fehrbelliner Platz in ein warmes Licht, Menschen laufen am Bürgeramt entlang, in dessen imposantem Gebäude auch das kleine Theater Coupé untergebracht ist. Im Inneren des Theaters herrscht Stille. Es ist angenehm kühl, schallisolierende Rollos verdunkeln den Raum. Einzig die Bühne ist in spärliches Licht getaucht. Ein Stuhl, ein Mikrofon, eine Leinwand, mehr ist nicht zu sehen.
Hier im DJT arbeiten Juden, Christen, Muslime und Atheisten zusammen
Nach und nach treffen die ersten Kollegen ein. Eine Umarmung hier und dort, verbunden mit Glückwünschen. Auf ihren Geburtstag angesprochen, winkt Frölich ab. »Für mich gibt es keinen besseren Ort, an dem ich an diesem Tag lieber wäre«, sagt die gebürtige Dresdnerin, die das DJT seit 2016 leitet. »Wenn man über die vielen Jahre so viel Zeit miteinander verbringt wie wir, ist das ohnehin ein bisschen wie Familie«, sagt Regisseurin Evgenija Kochanenko-Rabinovitch, die gerade zur Tür hereingekommen ist. Hier im DJT arbeiten Juden, Christen, Muslime und Atheisten zusammen.
Es ist wichtig, die Geschichte erfahrbar, emotional greifbar zu machen.
Von der ersten Idee bis zur letzten Probe vergeht – allein für dieses Stück – rund ein halbes Jahr. Nicht viel, wenn man bedenkt, dass sich so eine szenische Lesung mit filmischen und musikalischen Einlagen über ganze zwei Stunden hinzieht. 60 Vorstellungen werden im DJT pro Jahr im Durchschnitt aufgeführt. Daneben gibt es noch das interkulturelle Jugend- und Theaterprojekt »Schalom-Salam: Wohin?«.
Inzwischen wechseln sich auf der Bühne Monologe mit Dialogen ab, unterbrochen von Einspielern, die aus zusammengeschnittenem historischen Filmmaterial bestehen. Untermauert von selbst komponierten Stücken. Komponist Alexander Gutman schneit gerade herein. Sascha, wie ihn alle nennen, ist der musikalische Leiter des kleinen Theaters. Umgehend begibt er sich ans E-Piano und beginnt zu spielen.
Auf der Leinwand erscheint wieder ein filmischer Einspieler. »Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn«, scheppert es aus den Lautsprechern. Der Text basiert auf einem Gedicht von Erich Kästner. Gänsehautmoment. Möglicherweise auch deshalb, weil die Panzer, die in den 40er-Jahren über die Straßen ratterten, Gedanken an jene aus der Ukraine aufkommen lassen, die wir allabendlich in den Nachrichten sehen.»Ich komponiere die gesamte Musik zu unseren Stücken«, erklärt Gutman, der auch alle Texte live einsingt: »Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn? / Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen! / Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn / in den Büros, als wären es Kasernen.« Ein enormer Aufwand, doch was für eine Wirkung. Gutman stammt aus St. Petersburg, der ausgebildete Bariton hat auch die Filmclips geschnitten. »Sascha ist ein Tausendsassa«, sagt Alexandra Frölich. Wie alle Mitglieder des Ensembles hat er mehrere Aufgaben, er ist zudem Pianist, Tonmeister und manchmal auch Hausmeister.
Drei hebräische Lieder von zehn insgesamt, die im Laufe des Nachmittags geprobt werden
»Das Eklatante war nicht, was unsere Feinde taten, sondern das, was unsere Freunde taten«, ein Zitat von Hannah Arendt, gelesen von Schauspielerin Eva Maria Kölling. Worte einer großen jüdischen Publizistin, der es 1933 gelang, aus Nazideutschland zu flüchten. Was würden die sogenannten Freunde wohl heute machen? Alexandra Frölich singt nun ein Duett mit Eva Maria Kölling, die im Stück auch den Part der Else Lasker-Schüler hat. »Schma Israel, Adonai Eloheinu, Adonai Echad!«, das jüdische Gebet singen sie mit geschlossenen Augen. »Höre, Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer!« Noch so ein Gänsehautmoment.
Drei hebräische Lieder von zehn insgesamt, die im Laufe des Nachmittags geprobt werden. Noch pfeift das Mikrofon. Noch sitzt nicht jeder Ton. »Doch, das wird schon!«, versichert Evgenija Kochanenko-Rabinovitch vom Mischpult am Ende des kleinen Theatersaals ermutigend.
Was ist ihrer aller Motivation – in den Zeiten von KI und Streamingdiensten –, so etwas Anachronistisches wie politisches Theater zu machen? So viel Zeit und Energie in etwas zu investieren, das womöglich nur von wenigen Menschen wahrgenommen wird?
»Ich war so frustriert und entsetzt über das, was politisch zurzeit geschieht«, antwortet Frölich. 80 Jahre nach Kriegsende, da habe man doch etwas machen müssen, sagt Frölich, die anderen nicken. »Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass wir wieder geradewegs in eine Katastrophe laufen«, sagt die Literatur- und Theaterwissenschaftlerin. »Mit unserem Theater wollen wir dorthin gehen, wo es wehtut«, sagt Kölling und zitiert damit Arendt.
Nach rund sieben Stunden Probe ist es an der Zeit, die Sachen zu packen
Dass es das kleine DJT inzwischen gibt, ist beileibe keine Selbstverständlichkeit. Die Einrichtung, in der – in besten Zeiten – bis zu 30 Leute mitwirken, etliche davon ehrenamtlich, werde bis auf das Jugendprojekt bisher nicht staatlich gefördert. »Die Sache läuft, weil wir verrückt genug sind, unter dem Existenzminimum zu arbeiten«, sagt Frölich.
Was sie sich wünschen würden? »Dass mehr junge Menschen in unser Theater kommen«, antwortet Joachim Kelsch, der dem DJT seit 2014 angehört. Mehr Schulklassen. Es sei wichtig, die Geschichte erfahrbar zu machen, emotional greifbar. Noch so ein Anliegen, mit dem sich das Deutsch-Jüdische Theater in Berlin beschäftigt.
Nach rund sieben Stunden Probe ist es an der Zeit, die Sachen zu packen. Zeit, auf ein gutes neues Lebens- und Theaterjahr anzustoßen. Und natürlich auch auf den Frieden!