Mitzvah Day

Zeit schenken

Seit eineinhalb Jahren liegt Esther (Name von der Redaktion geändert) im Wachkoma. Doch sie ist nicht vergessen. Das Hamburger Jugendzentrum Chasak kümmert sich um die 23-jährige ehemalige Madricha. Am 17. November können Freiwillige für die junge Frau, die vor ihrem Unfall viel zur Jugendarbeit in Deutschland beigetragen hat, Sachspenden sammeln.

Dieser Sonntag ist der internationale Mitzvah Day. Erstmals beteiligen sich in Deutschland 37 jüdische Einrichtungen in 17 Städten mit 90 sozialen Projekten. Hannah Schubert-Dannel, Kulturreferentin im Zentralrat, ist beeindruckt vom Ideenreichtum der Akteure. »Nachdem wir im vergangenen Jahr in einigen wenigen Aktionen und beim Seminar zum Mitzvah Day die Idee vorgestellt haben, hofften wir auf vielleicht 30 Aktionen. Derzeit sind es dreimal so viele, und es kommen immer noch welche hinzu«, erzählt Schubert-Dannel begeistert.

Dabei wollte man erst einmal klein beginnen, auf Möglichkeiten hinweisen – und nun so ein Erfolg. Kinder helfen Senioren, Senioren stricken für den Chanukka-Basar, Freiwillige streichen die Wände einer Kita an und säubern Gehhilfen für Senioren. Junge Leute laden die Geschwisterkinder von schwer kranken Patienten eines Kinderhospizes zum Klettern ein, Studenten sammeln für die Stadtmission.

Sozial Von Rostock bis München, von Düsseldorf bis Berlin beteiligen sich Jugendzentren, Gemeinden – ganz gleich, ob liberal, Reform oder orthodox –, Seniorenheime, Kindergärten oder Schulen an der Aktion. Erstmals wird der »Jüdische Aktionstag für soziales Handeln« deutschlandweit begangen.

Möglichst viele, besonders junge Leute wollte Zentralratspräsident Dieter Graumann ansprechen und »ureigene Gebote des Judentums umsetzen: das Streben nach Gerechtigkeit und Wohltätigkeit. Wir alle wollen die Welt doch ein Stückchen besser machen – Tikkun Olam als Motivation, Sinn und Ziel!«, gab Graumann der Initiative mit auf den Weg.

Nun ist er selbst von der hohen Beteiligung beeindruckt: »Soziales Engagement ist für unsere jüdischen Gemeinden moralische Verpflichtung und Herzensanliegen zugleich – das ganze Jahr über! Doch am Mitzvah Day wollen wir diese Seite des Judentums einmal besonders betonen. Ich freue mich sehr über die hohe Zahl der Teilnehmer und den Ideenreichtum in unseren Gemeinden.«

Und auch die Rabbinerkonferenzen freuen sich über die Aktionen. »Ich bin froh, dass die Institution des Mitzvah Day nach Deutschland gekommen ist«, schreibt der Sprecher der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, Niedersachsens Landesrabbiner Jonah Sievers. »Der Mitzvah Day gibt uns die einmalige Gelegenheit, sowohl nach innen als auch nach außen die Werte des Judentums zu vermitteln.«

Forum Gerade weil die Mizwa im Judentum eine Selbstverständlichkeit ist, stieß die Idee durchaus auch auf Kritiker. Doch Rabbiner Julian Chaim Soussan beschreibt in seinem Grußwort der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland, warum es sich hier um einen ganz besonderen Tag handelt: »Zum einen brauchen viele Menschen einen Anlass, sich aufzuraffen, etwas zu tun; das Trägheitsgesetz zu überwinden.« Häufig wolle man helfen, doch sei es nicht immer einfach, auf Bedürftige zuzugehen und ihnen Hilfe anzubieten. »Dies könnte von den Betroffenen schließlich als unhöflich oder erniedrigend empfunden werden«, weiß Soussan. »Der Mitzvah Day gibt ein Forum, wo das Helfen per se positiv besetzt ist und man sich an konkreten Projekten beteiligen kann, ohne dabei jemandem zu nahe zu treten.«

Genau das hatte sich Organisatorin Hannah Schubert-Dannel vorgestellt. »Wir wollen auf diese Weise die Gemeinschaft stärken, aber auch das Positive unseres Judentums zeigen.« Während ihrer Elternzeit habe sie über den Mitzvah Day gelesen und war fasziniert. Aus den USA kommend, wird er inzwischen in England, Kanada und sogar Australien durchgeführt. Daher sei es ihr auch wichtig gewesen, ihn in Deutschland am internationalen Mitzvah Day zu veranstalten. »So sind wir Teil einer großen Familie.«

basispaket Ein Festtag soll der 17. November werden. Jedes Projekt wird mit einem Basispaket – gesponsert vom Zentralrat der Juden in Deutschland – mit hellgrünen T-Shirts mit Mitzvah-Day-Logo, Luftballons, Wimpeln zum Dekorieren und Aufklebern ausgerüstet. Ob bei der Hausaufgabenhilfe, organisiert von der Frankfurter Lichtigfeld-Schule, oder beim Nachmittagskaffee für syrische Flüchtlinge, betreut von der Agentur für Jüdische Kultur in Mannheim, präsentieren sich die Akteure wiedererkennbar in den grünen Shirts.

In Berlin sind bislang 14, in München drei, in Köln zehn, in Düsseldorf sechs, in Frankfurt 19 und in Hamburg drei Projekte geplant. Hinzu kommen Rostock, Emmendingen, Baden, Lörrach, Hannover und Unna. Die Akteure reichen von der Sonnenblumen/Sterne-Gruppe des Frankfurter Kindergartens, der Kuchen für die Buchhaltungsabteilung der Jüdischen Gemeinde backt, bis zur Sammelaktion von Beth Shalom München, die einem Münchener Asyl- oder Flüchtlingsheim Kleidungsstücke zur Verfügung stellen will.

Betreuung Die Israelitische Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg plant eine Pflanzaktion in der Grünanlage einer Pflegeeinrichtung, in einem Park oder im Außengelände einer Kindertagesstätte. Die Jüdische Gemeinde Fulda besucht die Nachbarstadt Frankfurt, um jüdische Senioren an diesem Tag intensiv zu betreuen.

Die Uhr läuft, Sekunde für Sekunde zählt sie die noch verbleibende Zeit zum Mitzvah Day herunter. 17 Tage und fünf Stunden. »Bis dahin ist noch viel zu tun«, sagt Schubert-Dannel. T-Shirts, Luftballons, Plakate und Aufkleber müssen in der nächsten Woche verschickt werden. »Am 17. November schenken wir unsere Zeit«. Das ist das Wertvollste, was man geben kann.

Essay

Vorsichtig nach vorn blicken?

Zwei Jahre lang fühlte sich unsere Autorin, als lebte sie in einem Vakuum. Nun fragt sie sich, wie eine Annäherung an Menschen gelingen kann, die ihr fremd geworden sind

von Shelly Meyer  26.10.2025

Stuttgart

Whisky, Workshop, Wirklichkeit

In wenigen Tagen beginnen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt die Jüdischen Kulturwochen. Das Programm soll vor allem junge Menschen ansprechen

von Anja Bochtler  26.10.2025

Porträt

Doppeltes Zuhause

Sören Simonsohn hat Alija gemacht – ist aber nach wie vor Basketballtrainer in Berlin

von Matthias Messmer  26.10.2025

Trilogie

Aufgewachsen zwischen den Stühlen

Christian Berkel stellte seinen Roman »Sputnik« im Jüdischen Gemeindezentrum vor

von Nora Niemann  26.10.2025

Dank

»Endlich, endlich, endlich!«

Die IKG und zahlreiche Gäste feierten die Freilassung der Geiseln und gedachten zugleich der Ermordeten

von Esther Martel  24.10.2025

Kladow

Botschaft der Menschlichkeit

Auf Wunsch von Schülern und des Direktoriums soll das Hans-Carossa-Gymnasium in Margot-Friedländer-Schule umbenannt werden

von Alicia Rust  24.10.2025

Osnabrück

Rabbiner Teichtal: »Unsere Aufgabe ist es, nicht aufzugeben«

»Wer heute gegen Juden ist, ist morgen gegen Frauen und übermorgen gegen alle, die Freiheit und Demokratie schätzen«, sagt der Oberrabbiner

 24.10.2025

Universität

»Jüdische Studis stärken«

Berlin bekommt als eines der letzten Bundesländer einen Regionalverband für jüdische Studierende. Mitgründer Tim Kurockin erklärt, wie sich der »JSB« künftig gegen Antisemitismus an den Hochschulen der Hauptstadt wehren will

von Mascha Malburg  23.10.2025

Sport

»Wir wollen die Gesellschaft bewegen«

Gregor Peskin ist neuer Vorsitzender der Makkabi-Deutschland-Jugend. Ein Gespräch über Respekt, neue Räume für Resilienz und interreligiöse Zusammenarbeit

von Helmut Kuhn  23.10.2025