Frau Seidler, Mitte September feiert die Liberale Jüdische Gemeinde ihr 30-jähriges Bestehen. Wie blicken Sie auf Ihre Gemeinde?
Meine Gemeinde ist großartig. Ich bin so beeindruckt, mit welcher Beharrlichkeit, mit welcher Nervenstärke, mit welcher Zuversicht sie aufgebaut wurde, fortgeführt wird und sich weiterentwickelt. Ich bin mit ihr groß geworden. Wir sind eine der ältesten liberalen Gemeinden in Deutschland. Zu sehen, dass wir wachsen, dass wir vital sind – trotz aller Herausforderungen –, macht mich sehr glücklich. Wir sind hier, wir bleiben hier – und wir nehmen uns hier auch den Platz.
Drei Frauen haben vor 30 Jahren die Gemeinde gegründet. Sie hat also ein weibliches Fundament.
Diese Gemeinde ist durch Frauenpower entstanden, und sie ist maßgeblich durch Frauen geprägt. Wenngleich ich sagen würde, in anderen jüdischen Gemeinden sind zwar die Vorstände häufig männlich, aber die Gemeindearbeit, die ist ganz oft weiblich – sie wird nur noch nicht so gesehen. Unsere Gemeindearbeit ist weiblich, und wir machen sie sichtbar. Wir haben Frauen in Führungspositionen. Aber natürlich haben auch Männer hier ihren Platz und gestalten das Gemeindeleben mit. Es ist ein wirklich gutes Miteinander.
Auch Ihre Mutter gehörte zu den Gründungsmitgliedern.
Ja, und ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie viele Nerven sie das gekostet hat. Vor 30 Jahren war es auch innerhalb der Politik nicht ganz einfach, eine neue liberale jüdische Gemeinde zu gründen und dafür auch Anerkennung und Fördermittel zu erhalten. Es regte sich viel Widerstand; auch innerhalb der jüdischen Community gab es ein Pro und Contra ob dieser Entwicklung. Umso schöner ist es zu sehen, dass meine eigene Mutter und noch andere Mitstreiterinnen diese Gemeinde auf den Weg gebracht und aufgebaut haben. Und dass es mit der nächsten Generation weitergeht.
Sie waren eines der ersten Mädchen, das in der orthodoxen Gemeinde eine Batmizwa hatte. Sie haben einmal erzählt, dass es für manche Gemeindemitglieder damals ein kleiner Schock gewesen sei.
Ja, aber es gab auch viele, für die es besonders war, dass Mädchen in der orthodox geprägten Gemeinde ihre Batmizwa hatten. Für andere wiederum schien es schockierend, dass ein Mädchen von der Empore heruntersteigt, eine Alija bekommt, aus der Tora liest, eine Drascha hält – also all das, was die Jungs machen. Manche fanden, dass dies die richtige Entwicklung ist. Und andere haben eben gesagt: Das ist nicht so unseres. Somit war es letztlich auch logisch, dass sich eine liberale jüdische Gemeinde gründete, die an die liberale Tradition, die ja auch aus Deutschland kommt, anknüpft.
Wie würden Sie das Verhältnis zwischen den Gemeinden beschreiben?
Auch wenn es damals große Spannungen zwischen den Gemeinden gab, so kann ich für die Gegenwart sagen: Es ist schön zu sehen, dass wir ein gutes Miteinander haben und sogar gemeinsame Veranstaltungen durchführen, gerade auch, was politische Themen angeht.
Sind Ihnen die Zweifel einiger damals bei Ihrer Batmizwa sehr nahegegangen?
Für mich war das ein unglaublich prägender Moment, denn ich bin in einem Elternhaus groß geworden, in dem es immer hieß, Frauen müssen dieselben Chancen und Möglichkeiten haben wie Männer. Ich habe einen Bruder, und meinen Eltern war es immer wichtig, uns zu vermitteln, dass wir beide alles werden können, völlig unabhängig von unserem Geschlecht. Wenn wir dann aber in die Synagoge gegangen sind, dann saß mein Bruder unten, und ich saß oben auf der Empore und war irgendwie gefühlt nur passiv dabei. Da merkte ich: Ich möchte mein Judentum gern viel aktiver ausleben und eben nicht nur in vorgeschriebenen oder vorgesehenen Rollen, sondern auch ganz normal im Gottesdienst. Auch ich möchte eine Alija bekommen, aus der Tora lesen. Wenn wir hier Bar- und Batmizwa-Feiern haben, denke ich jedes Mal, welch eine Errungenschaft diese Gleichberechtigung ist.
Wie war das Judentum Ihrer Kindheit?
Unsere Familie hat die jüdischen Feste gefeiert. Unsere Synagoge war die in der Haeckelstraße. Wir sind mit der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) auf Machane gefahren. Im Fokus stand für mich immer das Gemeinschaftsgefühl. Auf der Schule waren mein Bruder und ich gefühlt die einzigen Juden. Umso schöner war es natürlich, zum Beispiel ein Jugendzentrum zu haben, in dem man dann einer von vielen war, und einen Ort, an dem man ganz selbstverständlich sein konnte.
War es in der Schule ein Thema, dass Sie jüdisch sind?
Ich hatte schon auch Mitschüler, die mich damals antisemitisch angegangen sind, mit ganz klarem Bezug zum Rechtsextremismus. Die Schule hat aber insofern gut reagiert, als dass sie gesagt hat, wir widmen uns jetzt einem Theaterstück, das wir als Klasse auf die Bühne bringen. Dort haben wir das »Tagebuch der Anne Frank« aufgeführt. So kamen auch meine Mitschüler, die Hakenkreuze gemalt oder mich mit Hitlergruß begrüßt hatten, in unterschiedliche Perspektiven hinein und hatten dann auf einmal auch ein ganz anderes Verständnis, welche Auswirkungen das für mich hatte. Das ist heute anders. Ich merke häufiger, dass, wenn in Schulen antisemitische Vorfälle passieren, diese häufig bagatellisiert oder relativiert werden. Damals wurde das doch sehr konsequent angegangen, und das würde ich mir auch für heute wünschen.
Fühlen Sie sich denn generell sicher in Hannover?
Als Gemeinde schon. Wir sind fester Bestandteil der Stadtgesellschaft, auch der politischen Gespräche, und arbeiten sehr gut mit der örtlichen Polizei, aber auch mit der Polizei auf Landesebene zusammen. Das Problem ist aber, dass sich unsere Gemeindemitglieder in ihrem Alltag nicht mehr sicher fühlen. Egal, wo sie sich bewegen – sei es am Arbeitsplatz, im Sportverein, in der Schule, in der Nachbarschaft –, meistens sind sie die einzigen Juden und in der Minderheit. Im Alltag müssen sie sich diverse Sprüche gefallen lassen und machen zum Teil heftige Erfahrungen mit Antisemitismus. Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich das noch einmal intensiviert.
Gibt es einen Unterschied, je nachdem, ob es ältere oder jüngere Gemeindemitglieder sind?
Was auffällt, ist, dass sich Jugendliche einerseits noch stärker hier in der Gemeinde engagieren, sich aber andererseits zunehmend in ihrem nichtjüdischen Freundeskreis zurückziehen. Sie tragen seltener ihren Davidstern und keine Kippa mehr, sondern nur noch das Basecap, weil sie auf diese Weise versuchen, sich zu schützen. Das macht mich immer sehr traurig, weil ich die Ambivalenz zwischen diesen selbstbewussten jüdischen jungen Menschen hier in der Gemeinde sehe und dann die Barriere spüre, dieses Selbstbewusstsein auch nach außen zu tragen, an einen Ort, an dem sie häufig allein sind.
Sie tragen eine Kette mit Davidstern – auch draußen?
Ich trage meine Kette immer. Allerdings habe ich es auch schon hier erlebt, dass ich beim Bäcker stehe, mir eigentlich nur einen Kaffee holen möchte, Leute meine Kette sehen und auf einmal in der Bäckerei »Fuck Israel« und »Scheiß Zionisten« rufen. Das sind dann Momente, in denen ich, ehrlich gesagt, auch oft gar nicht mehr reagiere. Denn würde ich mich um jeden antisemitischen Vorfall kümmern, den ich selbst erlebe, dann wäre ich nur noch damit beschäftigt – und das zieht so viel Energie und Kraft. Ich wäge für mich sehr gut ab, wann ich verbal einschreite oder Strafanzeige stelle. Ich weigere mich, mich jeden Tag fast ausschließlich mit Antisemitismus zu beschäftigen. Judentum ist viel mehr, und meine jüdische Gemeinde ist viel mehr. Wir haben ja auch in Niedersachsen unterschiedliche Stimmen zum Thema Antisemitismus. Mir ist immer nur wichtig zu betonen: Es ist mit Sicherheit auch ein Generationen-Thema.
Inwiefern?
Wenn man eher zur älteren Generation gehört, bekommt man nicht automatisch mit, wie es hier in den Schulen läuft. Als Mutter von Teenagern erlebe ich, was ganz real in Niedersachsen passiert. Es gibt aber auch noch einen ganz anderen Unterschied, gerade wenn man in einer repräsentativen und öffentlichen Position ist. Denn für islamistische Kreise stellt eine einflussreiche jüdische Frau noch viel mehr eine Reizfigur dar als ein älterer Mann. Die Drohungen, die ich bekomme – von Vergewaltigung bis Morddrohungen –, wird ein Mann nicht erhalten. Fantasien von Gewaltakten beziehen sich auf jüdische Frauen – und das ist nicht nur ein Phänomen in Niedersachsen, das ist bundesweit so. Insbesondere nach dem 7. Oktober sind jüdische Frauen mit einer ganz anderen Form von Antisemitismus konfrontiert, nämlich mit sehr starker sexualisierter Gewaltandrohung. Ich würde mir daher Unterstützung und vor allem Empathie auch von der nicht-weiblichen Community wünschen, weil es eben nichts mit Sensibilität, Überempfindlichkeit oder Alarmismus zu tun hat, sondern mit einer ganz direkten Lebensrealität.
Sie wurden als Lehrbeauftragte von einer sogenannten propalästinensischen Gruppe bedroht. Haben Sie damit abgeschlossen?
Ich habe für mich einen Umgang gefunden. Und ich habe auch meine Grenze gezogen. Ich habe drei Semester unter teils heftigen antisemitischen Drohungen und Anfeindungen gelehrt. Doch dann habe ich entschieden, meine Energie lieber in Bereiche einzubringen, wo ich auch etwas bewirken kann, beispielsweise auf politischer Ebene oder eben innerhalb der jüdischen Community. Ich möchte mich durch Antisemitismus nicht einschränken lassen in meiner jüdischen Identität und auch nicht in meiner Fröhlichkeit. Ich bin an sich ein sehr optimistischer Mensch, was ja auch im Judentum fest verankert ist. Wir sind ein sehr lebensbejahendes Völkchen. Theoretisch wäre es nachvollziehbar, wenn wir als jüdische Community den halben Tag depressiv in der Ecke sitzen, resignieren und verzweifeln. Aber das tun wir nicht, und das werden wir auch nie tun. Da bereite ich mich lieber auf die Hohen Feiertage vor und widme mich dem üblichen »Gemeindewahnsinn«, wie ich es immer liebevoll bezeichne.
Wir sind hier in den Räumen des Jugendzentrums. Wie viele junge Leute gibt es bei Ihnen in der Gemeinde?
Wir haben eine große Jugendgruppe. Das liegt aber auch daran, dass wir eng mit dem Verein »Netzer Germany« zusammenarbeiten. Wir haben einen Kicker, Tischtennisplatten, es gibt Empowerment-Seminare. Hier in der Gemeinde bieten wir jedoch seit Kurzem auch Mehrgenerationen-Aktivitäten an und möchten das noch weiter ausbauen. Viele Gemeinden haben Angebote für Kinder, Jugendliche, Senioren – nur für die Altersgruppen dazwischen nichts. Deshalb haben wir auch den »Social Club« ins Leben gerufen.
Was machen Sie dort?
Wir treffen uns regelmäßig, es gibt Live-Musik durch verschiedene Künstler, Essen, Wein, ein bisschen Networking. In unserem Alter braucht man ja immer irgendetwas, einen Anwalt, einen Arzt, Rat im Umgang mit den Kindern. Nach und nach haben dann ältere Gemeindemitglieder gefragt, ob sie sich hinzusetzen können, dann wurden die Jüngeren darauf aufmerksam – und jetzt kommen alle zusammen. Das ist unser Gemeinschaftsgefühl, über alle Alters- und Sprachgrenzen hinweg.
Wie in vielen Gemeinden sprechen die Mitglieder Russisch, Ukrainisch, Deutsch. Wenn es die Zuwanderung Anfang der 90er-Jahre nicht gegeben hätte, wären viele Gemeinden in Deutschland einfach nicht existent.
Es hätte auch unsere Gemeine nicht gegeben. Sie wird bis heute maßgeblich gestaltet und getragen von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie sind eine absolute Bereicherung. Unsere Gebetbücher sind auf Hebräisch, Russisch und Deutsch, damit man in seiner Herzenssprache beten kann. Bei uns gibt es keine Unterschiede oder die Bildung von einerseits Gruppen mit Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und andererseits »alteingesessenen« Juden. Die Menschen, die Anfang der 90er-Jahre nach Deutschland gekommen sind, mussten sich ja auch erst einmal orientieren und die Gemeinden hier verstehen, viele näherten sich dem Judentum wieder an. Sie brauchten einfach Zeit.
Wie hat Sie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine 2022 geprägt?
Wir haben bereits wenige Tage nach dem Angriff Menschen bei uns aufnehmen können. Was die Gemeinde hier alles auf die Beine gestellt hat, war unglaublich. Unser Veranstaltungssaal war voller Sachspenden – unsere Mitglieder halfen den Familien einfach bei allem. Wir haben auch Gemeindemitglieder hinzugewonnen – wie unseren Rabbiner beispielsweise. Andere haben wir schon wieder verabschiedet, die dann zurückgegangen sind in die Ukraine, und wir blicken mit großer Sorge auf die Situation im Land.
Neben der Geschäftsführung der Gemeinde sind Sie seit 2023 auch Vorsitzende von JLEV, dem Jüdischen Liberal-Egalitären Verband im Zentralrat der Juden. Wie geht es JLEV?
Wir hatten gerade ein Arbeitswochenende, haben das vergangene Jahr Revue passieren lassen und die Planungen fürs kommende Halbjahr gemacht. Wissen Sie, das liberale Judentum hatte es in seinen Anfängen wahnsinnig schwer. Und wenn wir ehrlich sind, war es ja auch zu Beginn in der Zusammenarbeit mit dem Zentralrat problematisch. Vertrauen musste aufgebaut werden. Heute ist das liberale Judentum ein selbstverständlicher Teil des Zentralrats geworden. Und wir von JLEV sind froh, uns jetzt mit Inhalten auseinandersetzen zu können und nicht mit Machtspielchen, Persönlichkeiten oder Befindlichkeiten.
Was wünschen Sie sich für Ihre Gemeinde zum 30. Jubiläum?
Dass es gesamtgesellschaftlich zu mehr Ruhe kommt und zu einer friedvollen Situation auch in den jeweiligen Städten, sodass die Menschen wieder an Selbstsicherheit gewinnen können. Wir haben einen großen Pool an ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Davon wird die Gemeinde getragen, und das ist wirklich beeindruckend. Es ist diese Herzlichkeit, die einen schwere Dinge besser aushalten lässt. Das gilt es zu bewahren. Dieser Moment, in dem man merkt: Wenn ich hier bin, ist alles gut. Unsere Stärke liegt in unserer Einheit für das jüdische Leben einzutreten – in Israel, in der Diaspora und überall auf der Welt. Daher wünsche ich mir für unsere Gemeinschaft: Chasak we‹ematz – seid stark und mutig!
Mit der Geschäftsführerin der Liberalen Gemeinde sprach Katrin Richter.