Missbrauch

Wir müssen reden!

Aufklären, Wissen vermitteln und vulnerable Gruppen bestärken: Das sollten die Gemeinden jetzt tun. Foto: Getty Images/iStockphoto

Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem: Sexuellen Missbrauch gibt es in der Familie, in pädagogischen Einrichtungen, im Sportverein und in Religionsgemeinschaften – auch der jüdischen. »Überall, wo es Abhängigkeiten und Machtstrukturen gibt, findet so etwas statt«, sagt die in Berlin lebende Psychologin Eden Kosman. Die Stipendiatin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks promoviert in Sexualwissenschaft, gibt Workshops zu dem Thema und klärt in sozialen Medien auf.

»Viele sagen: ›So etwas existiert nicht bei uns‹«, beschreibt Kosman einen Mechanismus, der häufig verhindert, dass sexueller Missbrauch angesprochen wird. »Von der eigenen Gruppe will man ein gutes Bild haben.« Doch sie fordert: »Wir müssen in der jüdischen Gemeinschaft unbedingt über dieses Problem reden!«

Skandal Elena Eyngorn will reden. Nur habe ihr lange niemand zugehört. »Es wussten viele Bescheid, und trotzdem ist nichts passiert«, erzählt das Mitglied der Jüdischen Gemeinde von Oranienburg. Eyngorns vehementer Einsatz für Missbrauchsopfer steht am Anfang eines Skandals, der aktuell die jüdische Gemeinschaft stark beschäftigt: Einem Rabbiner wird vorgeworfen, in den vergangenen beiden Jahrzehnten zahlreiche Frauen manipuliert und sexuell ausgenutzt zu haben.

Betroffen seien vor allem, so Eyngorn, junge, russischsprachige Frauen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem Rabbiner standen. »Lange hat sich niemand eingemischt, bis die Sache bei mir gelandet ist«, sagt Eyngorn. Immer mehr Frauen hätten sich bei ihr gemeldet, alle mit ähnlichen Berichten über den Berliner Rabbiner.

»Es braucht Schutz- und Präventionskonzepte in jüdischen Einrichtungen.«

Psychologin Eden Kosman

Heute findet die Wirtschafts-Ingenieurin, die im Raumfahrtbereich arbeitet, lobende Worte für den Umgang der Jüdischen Gemeinde zu Berlin mit dem Fall: »Nachdem ich mich an den Vorsitzenden gewandt hatte, wurde schnell reagiert.« Dem Rabbiner, dem schweres Fehlverhalten vorgeworfen wird, wurde umgehend gekündigt, und das Beit Din der Orthodoxen Rabbinerkonferenz hat ihn mittlerweile in einem Urteil als ungeeignet für sein Amt bezeichnet.

indifferenz Doch es habe viel zu lange gedauert, bis entschlossen gehandelt wurde, findet Eyngorn. »Es ist erschreckend, wie wenig sich um die Frauen gekümmert wurde«, klagt sie die Indifferenz einiger Mitwisser an. Eyngorn wünscht sich nun Veränderungen in der jüdischen Gemeinschaft. »Es müsste eine Anlaufstelle für missbrauchte Frauen geschaffen werden«, schlägt sie vor. »Außerdem sollten sich jüdische Einrichtungen überlegen, ob sie nicht die Stelle einer Frauenbeauftragten einrichten wollen.« Sie hofft, dass in Zukunft ein solcher Fall in der jüdischen Gemeinschaft nicht mehr möglich sein wird.

Für Eden Kosman gibt es nur eine Antwort auf Missbrauchsfälle in der jüdischen Gemeinschaft: »Es braucht hier eine Null-Toleranz-Haltung.« Opfern müsse man das Gefühl geben, auch gehört zu werden, findet die Psychologin. Sie plädiert zudem für interne Workshops und Schulungen zu dem Thema. Ihre Formel: »Aufklärung, Wissensvermittlung und Empowerment für vulnerable Gruppen.«

Als wichtig erachtet Kosman außerdem, dass klare Handlungsanweisungen existieren, sollte es zu Missbrauchsfällen kommen. »Es braucht Schutz- und Präventionskonzepte in jüdischen Einrichtungen«, ist sie überzeugt.

konzepte Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) arbeitet derzeit an solchen Konzepten. »Wir haben alltäglich mit schutzbedürftigen Gruppen zu tun, etwa mit Kindern oder behinderten und alten Menschen«, sagt Aron Schuster, der Direktor des Dachverbands der jüdischen Wohlfahrtspflege.

Von den Erfahrungen, die die ZWST dabei gesammelt hat, sollen nun auch andere jüdische Institutionen profitieren. Schuster: »Wir wollen Gemeinden und Mitgliedsverbände dabei unterstützen, eigene präventive Schutzkonzepte zu etablieren.« Ein »Copy-und-Paste-Prinzip« könne es dabei aber nicht geben, ist der ZWST-Direktor überzeugt. Stattdessen müssten die Konzepte immer an die Begebenheiten vor Ort angepasst werden.

Die Aufgabe, die vor der jüdischen Gemeinschaft steht, ist groß, glaubt Schuster. »Man kann das Problem nicht auf einen Einzelfall beschränken.« Nach wie vor fehle viel Expertise, wie mit Missbrauch umgegangen werden kann, und eine Beratung, die sich explizit an Opfer in den Gemeinden richte, gebe es bisher nicht. Schuster ist überzeugt, dass es für die jüdische Gemeinschaft noch einiges in dem Bereich zu tun gibt: »Das ist eine Herausforderung, die uns noch viel beschäftigen wird.«

Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland nimmt das Thema Missbrauch sehr ernst.

Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland nimmt das Thema Missbrauch sehr ernst. Das Team des Gemeindecoachings ist in der gesamten Bundesrepublik unterwegs, um die jüdischen Gemeinden zu beraten und gemeinsam mit den Verantwortlichen vor Ort an transparenten und professionellen Strukturen zu arbeiten. »Wenn es eine Gemeinde möchte, wird hier auch Unterstützung bei der Erarbeitung von Maßnahmen zum Schutz vor Missbrauch angeboten«, erklärt ein Sprecher des Zentralrats.

Unterstützung Auf unterschiedlichen Wegen suchen Jüdinnen und Juden in Deutschland gerade nach einem neuen Umgang mit dem Thema Missbrauch. Eine von ihnen ist Esti Rubins, die Gründerin von Kol Achotenu. »Wir wollen durch unsere Gruppe eine weibliche feministische Perspektive aufs Judentum beleuchten«, sagt die 22-jährige Karlsruherin, die sich selbst als »modern-orthodox« beschreibt.

Als sie von den schweren Vorwürfen gegen den Berliner Rabbiner hörte, war sie geschockt. Doch es folgte sofort ein anderer Impuls: »Ich hatte das sehr starke Bedürfnis, etwas zu tun, Unterstützung zu leisten.« Heute ist Rubins in Kontakt mit mehreren betroffenen Frauen, organisiert Anwälte und Therapieplätze.

Esti Rubins organisiert Anwälte und Therapeuten für betroffene Frauen.
»Ich möchte der Community durch diese schwere Zeit helfen«, sagt sie. »Ich lebe als orthodoxe Frau und schätze die rabbinischen Institutionen sehr, aber ich frage mich, wie hier Vertrauen wiederaufgebaut werden kann.« Es brauche Anlaufstellen, an die sich betroffene Frauen vertrauensvoll wenden könnten, findet Rubins. »Wir haben viele Gespräche zu führen«, ist sie sich sicher. Doch diese seien nötig, um Missbrauch in der jüdischen Gemeinschaft künftig besser verhindern zu können. Denn: »Wenn alle wegschauen, dann passiert auch nichts.«

Betroffene können sich beim Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch unter 0800/22 55 530 kostenlos und unverbindlich beraten lassen, auch auf Russisch oder Ukrainisch.

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