Frédéric Brenner

Vielstimmig und komplex

Am Anfang war das Laub. Lose Blätter, die Frédéric Brenner an einem Herbsttag 2016 in Berlin entgegenwehten. Er begann sie zu beobachten und zu fotografieren – ihre Struktur, ihre Farben, ihre Bewegung, ihre unterschiedlichen Zersetzungszustände. »Sie erinnerten mich an die Macht der Kapitulation – loslassen, zuhören und dann umarmen«, beschreibt der Künstler den Beginn seines Projekts, aus dem drei Jahre später ZERHEILT entstehen sollte – eine Ausstellung über jüdisches Leben in Berlin.

Auch das erste Bild, das beim Betreten der Ausstellung ins Auge fällt, erinnert an ein fallendes Blatt: Es zeigt einen Mann, der auf den sandigen Boden gefallen zu sein und ihn zu umarmen scheint – Brenners erstes Porträt für das Projekt, das seit dem 3. September im Jüdischen Museum Berlin (JMB) zu sehen ist. Was an den Bildern auffällt, ist das Fehlen jeglicher Infotafeln: Es gibt keine Labels. Weder für die Porträts noch für jüdisches Leben in Berlin.

essay Und auch sonst widersetzt sich der fotografische Essay, als den das Museum die Werke des international renommierten Künstlers präsentiert, dem gewohnten Blick des Betrachters. Schon der Titel, ein Zitat des Dichters Paul Celan, ist eine Einladung zum Perspektivwechsel, der sich jeglichen Schubladen und Sicherheiten entzieht. ZERHEILT fordert heraus, hinterfragt, folgt Spuren, öffnet Räume, statt sie zu begrenzen.

Die Bilder stehen für sich. Es gibt keine Lesart, die sie mitliefern.

Die Bilder stehen für sich. Sie unterwandern die Sehgewohnheiten. Es gibt keine Lesart, die sie mitliefern. Die Besucher sind aufgefordert, sich immer wieder neu mit ihnen auseinanderzusetzen – und mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen, die sie hervorrufen.

komplexität So ungewöhnlich dieser Zugang zunächst erscheinen mag, so gut beschreibt er doch Frédéric Brenners Herangehensweise: »Ich muss erst dem Fremden in mir begegnen, dem Ungesicherten, dem nicht Kontrollierbaren, um anderen die Möglichkeit zu geben, dasselbe zu tun«, sagt der Künstler der Jüdischen Allgemeinen. Zudem fügt sich dieser Zugang nahtlos ein in die Akzente, die das JMB setzen will, gerade mit seiner neuen Dauerausstellung.

»Eine Einladung zum Denken« seien Brenners Bilder, sagt Museumsdirektorin Hetty Berg. »Sie wollen keine Aussage treffen, sondern die Betrachter in einen gedanklichen Raum führen, in dem Vergangenheit und Gegenwart widerhallen.«
Seit mehr als 40 Jahren nimmt Frédéric Brenner jüdisches Leben in der Diaspora per Kamera in den Blick. Es ist ein komplexer Blick, der der Vielstimmigkeit der Menschen und Orte gerecht wird, die er zeigen will. Eine Komplexität und Vielfalt jüdischer Gegenwart, der sich auch das Jüdische Museum verschrieben hat.

ZERHEILT entstand zwischen 2016 und 2019. Der Fotojournalist betrachtet darin Berlin als Bühne verschiedener Inszenierungen des Jüdischseins und porträtiert Orte, darunter einen leeren, eingezäunten Fußballplatz, ein Walddickicht, private Wohnräume sowie Individuen: Neuankömmlinge, Alteingesessene, Konvertiten, Zuwanderer und andere, die sich in Berlin niedergelassen haben oder auch nur vorübergehend hier leben.

stereotype Dabei hinterfragt der Künstler stereotype Bilder und Vorstellungen, um neue Perspektiven zu eröffnen – auf Menschen und Fragen, die sich um jüdisch-deutsche Geschichte drehen. »Brenner zielt mit seinem fotografischen Essay nicht auf eine erschöpfende Dokumentation des Status quo jüdischen Lebens heute in Deutschland ab«, betont Theresia Ziehe, Kuratorin für Fotografie am JMB. »Seine Bilder bieten vielmehr fragmentarische Einblicke in das Leben in Berlin voller Paradoxien, Dissonanzen, Leerstellen und widerstreitender Narrative zwischen Vergangenheitsbewältigung und dem Wunsch nach Erlösung.«

Geplant sei außerdem eine Verlängerung der Ausstellung in andere Medien, sagt die Kuratorin. So soll etwa eine Porträtserie auf der Webseite des Jüdischen Museums und in den sozialen Medien entstehen. »Das soll eine Brücke sein, an die auch jüngere Zielgruppen anknüpfen können«, betont Theresia Ziehe.

www.jmberlin.de/ausstellung-zerheilt

Jubiläum

»Eine Zierde der Stadt«: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in Berlin eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin eingeweiht. Am Dienstag würdigt dies ein Festakt

von Gregor Krumpholz, Nina Schmedding  11.11.2025

Vertrag

Jüdische Gemeinde Frankfurt erhält mehr Gelder

Die Zuwendungen durch die Mainmetropole sollen bis 2031 auf 8,2 Millionen Euro steigen

von Ralf Balke  11.11.2025

Berlin

Ein streitbarer Intellektueller

Der Erziehungswissenschaftler, Philosoph und Publizist Micha Brumlik ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Ein persönlicher Nachruf

von Julius H. Schoeps  11.11.2025

Hannover

Ministerium erinnert an 1938 zerstörte Synagoge

Die 1938 zerstörte Neue Synagoge war einst mit 1.100 Plätzen das Zentrum des jüdischen Lebens in Hannover. Heute befindet sich an dem Ort das niedersächsische Wissenschaftsministerium, das nun mit Stelen an die Geschichte des Ortes erinnert

 10.11.2025

Chidon Hatanach

»Wie schreibt man noch mal ›Kikayon‹?«

Keren Lisowski hat die deutsche Runde des Bibelquiz gewonnen. Jetzt träumt sie vom Finale in Israel

von Mascha Malburg  10.11.2025

München

Gelebte Verbundenheit

Jugendliche engagieren sich im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes in den Einrichtungen der Israelitischen Kultusgemeinde

von Esther Martel  09.11.2025

Sport

»Die Welt spielt gerade verrückt«

Alon Meyer über seine Wiederwahl zum Makkabi-Präsidenten in ganz besonderen Zeiten, den enormen Mitgliederzuwachs und die Zukunft des jüdischen Sportvereins

von Helmut Kuhn  09.11.2025

Erlangen

Bald ein eigenes Zuhause

Nach jahrzehntelanger Suche erhält die Jüdische Kultusgemeinde ein Grundstück für den Bau einer Synagoge

von Christine Schmitt  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025