Justiz

»Das Problem betrifft auch unsere Bundesrepublik«

Gemeindechef Max Privorozki Foto: dpa

Im Prozess um den rechtsterroristischen Anschlag vor Halle haben mehrere Überlebende aus der Synagoge Deutschland aufgerufen, den Antisemitismus im Land ernst zu nehmen. Viele in Deutschland würden sagen, Judenhass sei ein Problem, das durch Geflüchtete aus dem Nahen Osten nach Deutschland importiert worden sei.

»Aber das Problem betrifft nicht nur den Nahen Osten, das betrifft auch unsere Bundesrepublik«, sagte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, am Dienstag vor Gericht. Er bezweifelte etwa, dass der Angeklagte seinen Antisemitismus ohne Einfluss der Eltern entwickelt habe und die nichts davon wussten.

»Es war nicht die Tür, die uns gerettet hat«, sagte die 29-jährige Zeugin.

Eine werdende Rabbinerin aus Berlin beklagte zudem, dass viele Deutsche sehr wenig über das Judentum wüssten. »Für die meisten Deutschen, sogar hier im Gerichtssaal, scheint das jüdische Leben etwas zu sein, das ausgestorben ist«, sagte die 29-Jährige. Auch die öffentliche Debatte über den Anschlag und die Berichterstattung hätten gezeigt, dass die Deutschen das Problem in ihrer Gesellschaft nicht wahrhaben wollten. Symptomatisch dafür sei die große Aufmerksamkeit, die der Tür der Synagoge gegeben worden sei.

»Es war nicht die Tür, die uns gerettet hat«, sagte die 29-Jährige. Sie verwies etwa auf Splittergranaten, die der Attentäter über die Mauer vor der Synagoge warf. Die hätten die Besucher der Synagoge trotz der Tür töten können. Die deutsche Öffentlichkeit aber habe nach einem »tollen Deutschen, der die Juden gerettet hat«, gesucht. Den habe es aber nicht gegeben, deshalb sei diese Erzählung falsch.

Seit Juli läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess um den Anschlag. Aus Platzgründen findet das Verfahren in den Räumen des Landgerichts Magdeburg statt. Der Angeklagte, der 28-jährige Sachsen-Anhalter Stephan B., gestand zu Prozessbeginn, am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht zu haben, die Synagoge von Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Darin feierten gerade 52 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Der Attentäter scheiterte jedoch an der Tür, erschoss daraufhin eine Passantin, die zufällig an der Synagoge vorbei kam, und später einen jungen Mann in einem Dönerimbiss.

Gemeinde-Vorsitzender Privorozki berichtet vor Gericht von positiven Erfahrungen nach dem Anschlag.

Viele Überlebende aus der Synagoge hatten im Verlauf des Prozesses kritisiert, dass die Polizei nach dem Anschlag unsensibel und respektlos mit den Gläubigen umgegangen sei. Viele davon stammen von Überlebenden des Holocaust ab, so auch eine Berliner Rabbinerin, die am Dienstag aussagte. Alle ihre vier Großeltern hätten die Schoa überlebt, die grausamen Erfahrungen ihrer Großeltern habe sie schon von Kindesbeinen geprägt und sich als Trauma durch die ganze Familiengeschichte gezogen.

»Auch wenn die Schoa vorbei ist, sind es die Folgen nicht«, sagte die Frau. »Es sind nicht nur historische Fakten, es ist nach wie vor Teil meines Lebens.« Viele Deutsche wüssten nicht, dass dieses Schicksal des intergenerationellen Traumas in Deutschland kein Einzelfall sei. »Es geht vielen Menschen in diesem Land genau so«, sagte die 30-Jährige. »Deutschland muss die Tatsachen anerkennen, auch wenn es nur noch wenige Überlebende gibt, dass auch die Enkel und Urenkel mit diesem Trauma zu tun haben.«

Die 30-Jährige sah jedoch nicht nur Negatives in Deutschlands Umgang mit dem Attentat. So bemühe sich das Land etwa um eine gründliche juristische Aufarbeitung. »Meine Oma hatte nie die Gelegenheit, vor einem deutschen oder internationalen Gericht auszusagen«, sagte die Rabbinerin.

Gemeinsam mit rund 20 jungen Juden aus Berlin war das Rabbiner-Ehepaar an Jom Kippur nach Halle gereist.

Sie sei sehr froh, ihre Geschichte dort vortragen zu können. Die 30-Jährige war erst einige Monate vor dem Anschlag mit ihrem Mann, ebenfalls einem Rabbi, der vorige Woche im Prozess ausgesagt hatte, nach Berlin gekommen, um das Judentum in Deutschland zu beleben. Gemeinsam mit rund 20 jungen Juden aus Berlin war das Rabbi-Ehepaar an Jom Kippur nach Halle, wo die Gemeinde vor allem aus älteren Betern besteht gereist, um genau das zu tun.

Auch Gemeinde-Vorsitzender Privorozki berichtete vor Gericht von positiven Erfahrungen nach dem Anschlag. So hätten ihn die Solidaritätsbekundungen der Hallenser unmittelbar nach dem Anschlag aber auch noch viele Wochen danach sehr berührt und überzeugt, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland Antisemitismus und Hass klar ablehne.

»Das ist der größte Unterschied zwischen dem Jahr 1938, als unsere Synagoge auch angegriffen wurde, und 2019«, sagte Privorozki. Mit dem Eindruck dieser Solidarität fühle er sich nach dem 9. Oktober 2019 in Deutschland mehr zu Hause als davor.

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  15.09.2025 Aktualisiert

Sachsen-Anhalt

Erstes Konzert in Magdeburger Synagoge

Die Synagoge war im Dezember 2023 eröffnet worden

 15.09.2025

Thüringen

Jüdisches Bildungsprojekt »Tacheles mit Simson« geht erneut auf Tour

Ziel des Projektes sei es, dem Aufkommen von Antisemitismus durch Bildung vorzubeugen, sagte Projektleiter Johannes Gräser

 15.09.2025

Essen

Festival jüdischer Musik mit Igor Levit und Lahav Shani

Der Festivalname »TIKWAH« (hebräisch für »Hoffnung«) solle »ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten« setzen, hieß es

 15.09.2025

Berlin

Margot Friedländer Preis wird verliehen

Die mit insgesamt 25.000 Euro dotierte Auszeichnung gehe an Personen, die sich für Toleranz, Menschlichkeit, Freiheit und Demokratie einsetzen

 15.09.2025

München

»In unserer Verantwortung«

Als Rachel Salamander den Verfall der Synagoge Reichenbachstraße sah, musste sie etwas unternehmen. Sie gründete einen Verein, das Haus wurde saniert, am 15. September ist nun die Eröffnung. Ein Gespräch über einen Lebenstraum, Farbenspiele und Denkmalschutz

von Katrin Richter  14.09.2025

Hamburg

»An einem Ort getrennt vereint«

In der Hansestadt soll die Bornplatzsynagoge, die in der Pogromnacht von den Nazis verwüstet wurde, wiederaufgebaut werden. Ein Gespräch mit dem Stiftungsvorsitzenden Daniel Sheffer über Architektur, Bürokratie und Räume für traditionelles und liberales Judentum

von Edgar S. Hasse  13.09.2025

Meinung

»Als Jude bin ich lieber im Krieg in der Ukraine als im Frieden in Berlin«

Andreas Tölke verbringt viel Zeit in Kyjiw und Odessa – wo man den Davidstern offen tragen kann und jüdisches Leben zum Alltag gehört. Hier schreibt er, warum Deutschland ihm fremd geworden ist

von Andreas Tölke  13.09.2025

Porträt der Woche

Das Geheimnis

Susanne Hanshold war Werbetexterin, Flugbegleiterin und denkt über Alija nach

von Gerhard Haase-Hindenberg  13.09.2025