Potsdam

So nah wie nie

Der Wind pfeift über einen See am Rande von Potsdam. »Ich habe noch nie Eisschollen gesehen«, freut sich eine junge Frau auf Spanisch. Sie macht ein Foto und zieht ihren Rollkoffer weiter durch den Schnee, in Richtung des großen Konferenzhotels. Drinnen schälen sich junge Menschen aus ihren Jacken. Sie kommen aus Karlsruhe, München und Berlin, aus Chile, der Ukraine und Israel. 120 jüdische Aktive trafen sich vergangenes Wochenende bei der dreitägigen »Nevatim«-Konferenz.

Liza Cemel fängt gleich an, mit allen zu reden. In ihren Haaren baumelt eine Strähne, in die Muscheln und blaue Schutzaugen eingeflochten sind. Liza ist in Istanbul auf die jüdische Schule gegangen, seit zwei Jahren studiert sie in Heidelberg. »Der 7. Oktober hat uns alle einander näher gebracht, auch wenn wir aus sehr unterschiedlichen Kontexten kommen«, sagt sie. Liza ist auch zu der Konferenz gereist, um die Perspektive ihrer kleinen jüdischen Heimatgemeinde in Antakya zu teilen.

»Wir sind eins!«, sagt Anastassia Pletoukhina.

Als alle Teilnehmer sich in einem großen Saal an runden Tischen eingefunden haben, schnappt sich Anastassia Pletoukhina das Mikrofon. Sie ist Direktorin von Nevatim, einem Programm der Jewish Agency for Israel, das nicht nur engagierte Juden aus aller Welt auf einer alljährlichen Konferenz zusammenbringt, sondern ihnen auch die Möglichkeit bietet, eigene Projekte zu entwickeln und fördern zu lassen. »Wir sind eins!«, sagt Anastassia Pletoukhina. »So lautet der Titel unserer Konferenz.« Und sie formuliert auch gleich die Frage, die mit dieser besonderen Nähe verbunden ist: »Wie können Juden in Deutschland und in Europa, Israelis im Ausland und in Israel, sich in dieser schwierigen Situation gegenseitig unterstützen und besser zusammenarbeiten?«

»Ein nie da gewesenes Gewicht«

Nach dem 7. Oktober hätten sie und ihr Team das Programm für die Konferenz natürlich umarbeiten müssen, sagt Pletoukhina. Es war ein Tag, der ihr »ein nie da gewesenes Gewicht« auf die Schultern gelegt habe – »und das sage ich als Überlebende des Attentats von Halle«. Nun aber sei Israel verwundet. »Und auch wir haben die Verantwortung, diesem äußert menschlichen Land dabei zu helfen, wieder zu heilen.«

Dazu gehört auch, diejenigen einzuladen, die besonders betroffen sind. Sharon Anna Yacobi und Yael Simon nehmen später an diesem ersten Abend vor den Teilnehmern Platz. Sie haben das Massaker vom 7. Oktober überlebt. Nun hält Sharon Yaels Hand, während die junge Frau mit zitternder Stimme erzählt: Yael tanzte mit ihren Freunden auf dem Nova-Festival, als plötzlich durch die Morgenröte Raketen schossen.

»Ich rannte wie verrückt, neben mir fielen Menschen zu Boden«, erzählt sie. Im Raum ist es stickig und still. Während Yael beschreibt, wie sie unter Kugelhagel in einem Jeep entkam, spielen die Zuhörer nervös mit ihren türkisen Nevatim-Armbändchen. Yael, die Überlebende, sieht aus wie eine der Teilnehmerinnen. Sie ist gerade einmal 28 Jahre alt, trägt goldene Creolen, eine Jogginghose. Yaels Leben ist seit dem Oktobermorgen ein anderes.

»Wahrscheinlich war unsere Generation noch nie so eng mit Israel verbunden wie jetzt«, überlegt Pletoukhina. »Auch wenn du niemals dort warst, du kannst dich als Jüdin und Jude wohl kaum dem entziehen.« Israel ist für viele Teilnehmer ein Land, das jüdische Selbstbestimmung verspricht, sie erinnern sich an ihren ersten Taglit-Trip, an ebensolche Partys in der Wüste, wie Yael sie beschreibt. Aber es ist nun auch ein Land, das Feinde hat, die einem solche Grausamkeiten antun können. In der Theorie wussten sie das alle. Seit dem 7. Oktober aber ist es evident.

Strategien, um mit der neuen Realität umzugehen

Die Nevatim-Konferenz will für viele auch einen Raum schaffen, um Strategien zu finden, mit dieser neuen Realität umzugehen. In den Workshops geht es um Eigen­ermächtigung, um Widerstandskraft und Solidarität. Die Teilnehmer sprechen über psychische Krisen und darüber, wie man dem permanenten Antisemitismus mit sarkastischen Internet-Memes begegnet. Israelis, die in Deutschland leben, erzählen von der Einsamkeit in der Diaspora. »Wie können wir euch unterstützen?«, fragt eine Teilnehmerin.

Viele Überlebende des Nova-Festivals sind so jung wie die Teilnehmer der Konferenz.

Shai Doitsch möchte eine Antwort geben. Er engagiert sich im Projekt »Zusammen Berlin«, das Israelis in der Hauptstadt an einen Tisch bringt: »Wir sitzen am Freitagabend zusammen und reden lauthals auf Hebräisch – denn Hebräisch ist immer laut«, scherzt er. Doch es klingt auch Bitterkeit mit: Viele Israelis in Berlin trauen sich nicht mehr, ihre Muttersprache auf der Straße zu sprechen. »Wir brauchen Räume, in denen wir wir selbst sein und uns sicher fühlen können«, sagt Doitsch. Er hofft auf mehr Unterstützung der Gemeinden. »Der 7. Oktober hat zu einer ersten Annäherung zwischen unserer Blase und deutschen jüdischen Strukturen geführt.«

Am Sonntag, bevor alle abreisen, bedrucken die Teilnehmer zusammen mit Alex Golub von »J-Fashion« Kleidungsstücke mit selbst entworfenen jüdischen Designs. »Supermensh« steht da zum Beispiel, der Umhang eines Strichmännchens erinnert an einen Tallit.

Die Motive, die für Nichtjuden wohl kaum zu deuten sind, haben einen ernsten Hintergrund: »Viele trauen sich nicht, ihren Davidstern zu tragen«, erzählt Alex. »Aber mit unseren Klamotten können sie trotzdem ihre Identität zeigen.« Das Projekt wurde zwei Jahre von Nevatim gefördert. »Vorher war ich überhaupt nicht jüdisch engagiert oder eingebunden«, erzählt Alex. Über J-Fashion aber hat er viele jüdische Freunde gefunden. »Ich weiß jetzt, dass ich nicht allein bin«, sagt Alex. »Und das gibt mir in dieser schweren Zeit viel Kraft.«

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