Berlin

»Sie haben gestarrt, gefilmt, aber keiner hat geholfen«

Der Tatort in der Brunnenstraße Foto: Marco Limberg

Berlin

»Sie haben gestarrt, gefilmt, aber keiner hat geholfen«

Seit Monaten werden die Mitglieder der Kahal Adass Jisroel angefeindet

von Mascha Malburg  10.05.2024 00:04 Uhr

Die Brunnenstraße führt schnurgerade von Mitte zum Gesundbrunnen, 2,3 Kilometer, unter dem Asphalt rollt die U8. Ganz im Süden, am Rosenthaler Platz, wurde im Februar der jüdische Student Lahav Shapira so heftig verprügelt, dass er später mehrfach im Gesicht operiert werden musste.

Etwa einen Kilometer nördlich liegt das jüdische Gemeindezentrum, auf das im Oktober 2023 zwei Molotowcocktails flogen. Und fast am Ende der Straße, vor einem Barber-Shop, wurde am vergangenen Freitag einem jüdischen Ukrainer die Hand gebrochen. Dies sind die Fälle, die Schlagzeilen machten.

Zur Anzeige gebracht wurden etliche mehr. »Und es passiert hier beinahe täglich etwas, ohne dass die Behörden davon erfahren«, schätzt Anna Chernyak Segal, Geschäftsführerin der Gemeinde Kahal Adass Jisroel.

Anna Chernyak Segal sitzt in ihrem Büro, draußen windet sich der Stacheldraht die Dächer entlang. Niemand soll in den Hof der Gemeinde klettern können, in dem die Kita-Kinder spielen, die Betenden zum Kiddusch zusammenkommen, die Rabbinatsstudenten eine Kaffeepause einlegen.

»Hier drinnen fühlen sich die meisten von uns sicher«

»Hier drinnen fühlen sich die meisten von uns sicher«, sagt Chernyak Segal. Der Gebäudeschutz wacht vor der Tür, seit dem versuchten Brandanschlag steht auch ein Streifenwagen daneben, Straßensperren verhindern, dass Fremde zu nah herankommen. Doch draußen im Viertel haben die Gemeindemitglieder zunehmend Angst. Vor dem koscheren Supermarkt, auf dem Schulweg und sogar im eigenen Treppenhaus.

Sie wurden beleidigt, bespuckt, angerempelt. Aus vorbeifahrenden Autos schreit es: »Kindermörder«. Kürzlich flog ein Pflasterstein auf zwei Mitglieder. »Seit dem 7. Oktober ist es eindeutig mehr und heftiger geworden«, sagt Chernyak Segal. Der Angriff am vergangenen Freitag habe sie in seiner Brutalität dennoch erschrocken.

Wenige Stunden vor Schabbat wurde ein 54-jähriger Ukrainer auf der Höhe der Brunnenstraße 93 angegriffen. Ein arabisch aussehender Mann sei auf ihn zu gerannt, habe »Free Palestine« gerufen, ihn zu Boden geworfen und sei dann mit einem E-Roller auf ihn zugerast, erzählt der Verletzte später der 17-jährigen Mirjam L., die gerade auf dem Weg nach Hause war, als sie den Mann aus ihrer Gemeinde erkannte. »Sein Shirt war eingerissen und seine Hand dick geschwollen«, erinnert sich die Schülerin.

»Er und seine Frau, die dazugekommen war, sahen sehr verängstigt aus. Sie hatten etwa eine Stunde auf die Polizei gewartet. Die Nachbarn haben nur gestarrt, gefilmt, aber keiner hat geholfen.« Mirjam übersetzt für die Polizisten. Sie spricht Russisch, wie der Verletzte, ihre Eltern stammen wie er aus der Ukrai­ne, sie lebt im selben Viertel. Angst habe sie keine, sagt Mirjam, sie sehe ja nicht so jüdisch aus. Den Verletzten aber habe der Angreifer wohl an den heraushängenden Zizit als Jude erkannt, vermutet sie.

Kippot werden unter Kappen versteckt, Zizit in die Hosen gestopft

Nach dem Vorfall warnt der Vorstand seine Mitglieder in einer Chat-Nachricht: Sie sollten ihr jüdisches Erscheinungsbild, wenn möglich, minimieren. »Das widerspricht im Prinzip unserem ganzen Selbstverständnis«, sagt Anna Chernyak Segal. Die Gemeinde Kahal Adass Jisroel sei immer stolz gewesen, traditionelles Judentum selbstbewusst zu leben, auch nach außen. Doch nun werden wieder Kippot unter Kappen versteckt, Zizit werden in die Hosen gestopft. Die dunkelrote Schuluniform wurde abgeschafft. Zu häufig wurden selbst die Kleinsten auf der Straße angefeindet.

Gemeindemitglieder lassen sich nichts mehr nach Hause liefern, ändern ihre jüdisch klingenden Namen auf den Taxi-Apps. »Wir müssen uns eben selbst schützen«, sagt Chernyak Segal. In ihrem Büro stapeln sich die Schreiben der Polizei: Beinahe alle Ermittlungen wurden ohne Erfolg eingestellt, die Täter nie gefasst. Auch nach dem Angreifer vom Freitag fahndet der Staatsschutz noch vergeblich. Zeugen gibt es – wie fast immer – offiziell keine. Obwohl etliche zugesehen und gefilmt haben.

Und der Verletzte? Nach dem Schabbat wird bei ihm ein Bruch festgestellt, Gemeindemitglieder besuchen die Familie. »Der Mann war von dem Krieg in der Ukraine traumatisiert, sein psychischer Zustand hatte sich erst langsam wieder stabilisiert«, erzählt Chernyak Segal. Doch nun gehe es ihm wieder sehr schlecht, er wolle die Wohnung nicht verlassen. Der Angriff geschah dort, wo er Zuflucht finden sollte.

Immobilie

Das jüdische Monbijou

Deutschlands derzeit teuerste Villa auf dem Markt steht auf Schwanenwerder und soll 80 Millionen Euro kosten. Hinter dem Anwesen verbirgt sich eine wechselvolle Geschichte

von Ralf Balke  26.12.2025

Dating

Auf Partnersuche

Matchmaking mit Olami Germany – ein Ortsbesuch

von Jan Feldmann  23.12.2025

München

Ein kraftvolles Statement

Beim Gemeindewochenende nahmen zahlreiche Mitglieder an Diskussionen, Workshops und Chanukka-Feierlichkeiten teil

von Esther Martel  23.12.2025

Erfurt

Die Menschen halfen einander

Pepi Ritzmann über ihre Kindheit in der Gemeinde, ihre Familie und Antisemitismus. Ein Besuch vor Ort

von Blanka Weber  22.12.2025

Geburtstag

Holocaust-Überlebender Leon Weintraub wird 100 Jahre alt

Dem NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau entkam Leon Weintraub durch eine Augenblicks-Entscheidung. Heute warnt er als Zeitzeuge in Schulklassen vor Rechtsextremismus. Am 1. Januar feiert er seinen 100. Geburtstag

von Norbert Demuth  22.12.2025

Didaktik

Etwas weniger einseitig

Das Israel-Bild in deutschen Schulbüchern hat sich seit 2015 leicht verbessert. Doch der 7. Oktober bringt neue Herausforderungen

von Geneviève Hesse  22.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

WerteInitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 24.12.2025 Aktualisiert

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Aufgegabelt

Apfel-Beignets

Rezept der Woche

von Katrin Richter  20.12.2025