Obgleich schon länger sehr krank, freute sich Edith Raim (1965–2025) darauf, am 2. Juli im Historicum ihr jüngstes Werk über den jüdischen Philanthropen James Loeb vorzustellen. Eingeladen hatten dazu der Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur sowie die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern. Doch dazu gekommen ist es nicht mehr, da die Historikerin einen Tag davor ihrem Leiden erlag.
Die Geschichte ihrer Familie in der NS-Zeit und ihre Teilnahme als Schülerin in Landsberg am Wettbewerb Deutsche Geschichte, wozu sie eine Arbeit über den Außenlagerkomplex Kaufering des KZ Dachau einreichte, prägten ihren Berufsweg entscheidend. Raim studierte Geschichte und Germanistik in München und Princeton und promovierte mit einer Studie über Kaufering und Mühldorf, die bis heute als Standardwerk gilt.
Das gilt auch für ihre Habilitationsschrift zum Thema Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945–1949. Im Nachruf des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Augsburg ist zu lesen, dass Edith Raim »Generationen von Studierenden speziell für die Geschichte der Weimarer Republik, der NS-Diktatur und der Nachkriegszeit sensibilisierte«. Man trauert um eine Kollegin, die »unermüdliche Recherche, intellektuelle Klarheit und tiefes ethisches Verantwortungsbewusstsein« auszeichneten. Auch die Stiftung Bayerische Gedenkstätten würdigt die Fachkompetenz der »gefragten Beraterin für Gedenkstättenprojekte und erinnerungskulturelle Initiativen«.
Man trauert um eine Kollegin, die »unermüdliche Recherche, intellektuelle Klarheit und tiefes ethisches Verantwortungsbewusstsein« auszeichneten.
Noch 2024 hatte Raim die wissenschaftliche Leitung des Projekts »Nazi Crimes Atlas – Digitaler Atlas NS-Verbrechen« übernommen. Wie vielfältig und doch immer auf Verlauf und Folgen der NS-Zeit fokussiert ihre Arbeiten solo oder in Kooperation waren, zeigt ihre Publikationsliste. Da geht es 2008 um Überlebende von Kaufering. Biografische Skizzen jüdischer ehemaliger Häftlinge und 2010 um Yehuda Amichai, 2013 in Das leere Haus um »Spuren jüdischen Lebens in Schwaben«, 2019 Verloren in Manhattan: Synagogen im Herzen New Yorks. Ihr Wohnort, die oberbayerische Kreisstadt Landsberg, ließ sie zeitlebens nicht los. 1995 erschien Ein Ort wie jeder andere. Bilder einer deutschen Kleinstadt. Landsberg 1923–1958, 2015 Don’t Take Your Guns To Town. Johnny Cash und die Amerikaner in Landsberg 1951-1954 und noch einmal Cash in Barbaria. Schnappschüsse aus Landsberg am Lech 1953/54, wo die spätere Countrymusik-Ikone Johnny Cash stationiert war. Bis zuletzt engagierte sie sich für die Errichtung einer Gedenkstätte für das KZ-Außenlager Kaufering VII bei Landsberg.
Und sie nahm sich 2020 eine weitere Gemeinde vor: ›Es kommen kalte Zeiten‹: Murnau 1919–1950. Vier Jahre später, unterbrochen durch eine Arbeit über Revolution und Reaktion. Die Anfänge der NS-Bewegung im bayerischen Oberland 1919 bis 1923, erschien 2024 in der Reihe »Studien zur jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern«, herausgegeben von Michael Brenner und Andreas Heusler, ihre Monografie über James Loeb, der sich in die Landschaft um Murnau am Staffelsee verliebte und dort das Landhaus Hohenried bauen ließ. Ausgerechnet Murnau, eine Nazi-Hochburg seit den 1920er-Jahren, profitierte von der Großzügigkeit des jüdischen Bankiers aus New York, der mit diversen Stiftungen die dortige Infrastruktur auf Vordermann brachte, während die örtlichen Nationalsozialisten gegen das »jüdische Geld« ätzten.
In München gibt es eine James-Loeb-Straße, unweit vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie, dessen Vorläufer – unter dem Eindruck der Traumata des Ersten Weltkriegs – ebenfalls durch Spenden von Loeb zustande kam.
Edith Raim: »Der jüdische Mäzen und die Nazis. James Loeb und Murnau 1919–1933«. De Gruyter, Berlin 2024, 337 S., 49,95 €