Stuttgart

Mit Mordechai im Ohr

Das Jiddische »galt lange Zeit als ausgestorben, es hatte bestenfalls an Universitäten als akademisches Fach eine Bedeutung«, sagte Barbara Traub am vierten Tag des »6. Festival Yidishe Muzik« im großen Gemeindesaal der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW). Traub, aufgewachsen in Wien, hat das Jiddisch noch aus Wiener Kindheitstagen im Ohr. »Doch dann kam es mit den Einwanderern auch wieder zurück nach Deutschland«, erläuterte die Vorstandssprecherin der IRGW.

»Mehr als 80 Prozent unserer Mitglieder sind irgendwann während der zurückliegenden drei Jahrzehnte aus der ehemaligen Sowjetunion nach Württemberg und Stuttgart gekommen«, sagte Traub. Junge Menschen lernten Deutsch, die neue Sprache, schnell. Doch in den Sprachkursen, die Traub selbst – gerade von Wien über Haifa angekommen – organisierte, seien es oft »fremde, auch säuselnd-vertraute Worte« gewesen, die in neu gelernte Sätze Eingang fanden.

RENTEN In ihrem Grußwort kritisierte Barbara Traub die deutsche Justiz, die eine Ungleichbehandlung russisch-jüdischer Flüchtlinge und sogenannter Spätaussiedler verfolge. Weil das Jiddische, das die ältere jüdische Generation spreche, nicht auf »die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis« schließen lasse, werde diesem Personenkreis kein Rentenanspruch nach dem Fremdrentengesetz zugesprochen, Spätaussiedlern indes schon. »Jiddisch hat in den jüdischen Gemeinden durchaus eine politische Relevanz und Brisanz«, so die Vorstandssprecherin der IRGW.

Jiddisch ruft bei vielen eine Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit hervor.

Herzlich dankte sie den Initiatoren und Organisatoren, Mitgliedern des Vereins »Connect« aus Tübingen, für das sehr besondere Kulturereignis. Ihr Dank ging auch an Cem Özdemir für seine Schirmherrschaft. Der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft ist nicht nur gebürtiger Württemberger, sondern auch Liebhaber jiddischer Lieder. Um Mordechai Gebirtigs Werke »in die Gegenwart zu holen«, bedürfe es eines größeren Festivalbudgets. Er wolle sich für Kooperationen, unter anderem mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, einsetzen.

Damit läuft Özdemir offene Türen bei Connect ein. 2016 in der Region Neckar-Alb-Donau von Kunst- und Kulturenthusiasten gegründet, war es den Mitgliedern nicht nur gelungen, die für freie Künstler existenziell bedrohliche Pandemie zu überstehen, sondern 2022 sogar den Klezmer-Meister Giora Feidman zum 5. Festival und die IRGW ins Boot zu holen. Jiddisch wecke in vielen Menschen eine Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit.

Ziel der Organisatoren ist es, ein Gebirtig-Archiv aufzubauen.

»Wir sind keine religiösen Menschen, wir sind eine bunte Mischung aus Jidden und Nichtjidden, die sich dem Jiddischen verschrieben haben«, betont der Ethnologe und Kulturwissenschaftler. Cem Özdemir (neben der Bundestagsabgeordneten Annette Widmann-Mauz) ein weiteres Mal als Schirmherr gewonnen zu haben, scheint nicht allzu schwierig gewesen zu sein. Man kennt sich seit gemeinsamen Studienzeiten an der Universität Tübingen. Einig sei man sich auch in der Einschätzung, so Kunze, dass man mit dem jährlichen Festival einen Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus leisten kann.

SPRACHKURSE So findet das viertägige Fest an verschiedenen Orten statt und bindet auch Kirchengemeinden mit ein. Beliebt sind zudem die jiddischen Sprachkurse mit dem Judaisten Matthias Schiebe. »Er schafft es immer, binnen kurzer Zeit Teilnehmern des Kurses einfache Sprach- und Sprechkenntnisse beizubringen«, sagt Kunze. Begeistert war das Publikum auch von Klezmermusik aus Osteuropa und vom Musik-Workshop, wo jiddisches Liedgut gemeinsam erarbeitet wird.

»Jiddisch ist die engste Schwester des Deutschen, hat sich immer weiter entwickelt und ist kein Dialekt, sondern eine eigene Sprache, die auch Wörter aus dem Hebräischen, dem Aramäischen und nach der Flucht in den Osten auch aus den slawischen Sprachen übernommen hat«, betont Kunze. Ein cineastisches und dokumentarisches Highlight war ein sogenanntes Hörstück. Betitelt mit »Ein Traum vom Grab – Kafka und das Jiddische«, brachte es Vergangenes und Gegenwärtiges zusammen.

Über 170 Gedichte hat Mordechai Gebirtig veröffentlicht. Nur ein Bruchteil ist vertont und zum Beispiel durch Künstler wie die israelische Sängerin Chava Alberstein bekannt geworden. In jüngerer Gegenwart ist es der Niederländer Jacques Verheijen, der die Lieder vertont. Eine Kostprobe gaben Albert Kunze (Vortrag und Gesang) und Vladimir Romanov (Piano) zur Finissage des Festivals im Gemeindesaal der IRGW. Ziel der Organisatoren ist es übrigens, ein vollständiges Gebirtig-Archiv aufzubauen. Die erste deutschsprachige Biografie von Uwe von Seltmann über den »Vater des jiddischen Liedes« ist schon jetzt ein wichtiger Leitfaden.

KZ-Befreiungen

Schüler schreibt über einzige Überlebende einer jüdischen Familie

Der 18-jährige Luke Schaaf schreibt ein Buch über das Schicksal einer Jüdin aus seiner Heimatregion unter dem NS-Terrorregime. Der Schüler will zeigen, »was Hass und Hetze anrichten können«

von Stefanie Walter  29.04.2025

Schweiz

Junger Mann wegen geplanten Anschlags auf Synagoge Halle verhaftet

Die Anschlagspläne soll er laut Staatsanwaltschaft zwischen Juli 2024 und Februar 2025 wiederholt in einer Telegram-Chatgruppe angekündigt haben

 29.04.2025

Berlin

Bebelplatz wird wieder zum »Platz der Hamas-Geiseln«

Das Gedenkprojekt »Platz der Hamas-Geiseln« soll laut DIG die Erinnerung an die 40 in Geiselhaft getöteten Israelis und an die 59 noch verschleppten Geiseln wachhalten

 28.04.2025

Berlin

Jüdische Gemeinde erinnert an Warschauer Ghetto-Aufstand

Zum Abschluss der Namenslesung vor dem Jüdischen Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße ist für den Abend ein Gedenken mit Totengebet und Kranzniederlegung geplant

 28.04.2025

Düsseldorf

Erinnerungen auf der Theaterbühne

»Blindekuh mit dem Tod« am Schauspielhaus stellt auch das Schicksal des Zeitzeugen Herbert Rubinstein vor

von Annette Kanis  27.04.2025

Hanau

Jüdische Gemeinde feiert Jubiläum

»Im Grunde genommen ist es mit das Größte und Schönste, was eine Gemeinde machen kann: eine neue Torarolle nach Hause zu bringen«, sagt Gemeinde-Geschäftsführer Oliver Dainow

 25.04.2025

Begegnung

Raum für das Unvergessene

Jede Woche treffen sich Schoa-Überlebende im Münchner »Café Zelig«, um Gemeinschaft zu finden im Schatten der Geschichte. Ein Ortsbesuch

von Katrin Diehl  23.04.2025

Interview

»Das Gedenken für Jugendliche greifbar machen«

Kurator Pascal Johanssen zur neuen Ausstellung im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Pankow

von Gerhard Haase-Hindenberg  21.04.2025

Porträt der Woche

Austausch mit Gleichen

Maria Schubert ist Gemeindesekretärin in Magdeburg und tanzt gern

von Alicia Rust  18.04.2025