Als sich die Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg im April zum 80. Mal jährte, hielt Emilia Rotstein eine Gedenkrede. Sie ist die Tochter des Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub, und mit berührenden Worten erzählte sie von ihrem Vater, der unter den Gästen saß: wie er im Februar 1945 als Gefangener mit der Häftlingsnummer 82707 nach Flossenbürg kam und erlebte, wie sich ein Haufen von Menschenkörpern in Häftlingsanzügen über den Appellplatz bewegt. Um die Eiseskälte des Lagers auszuhalten, klammerten sich diese bibbernden und zitternden Gefangenen aneinander – wie an einen menschlichen Ofen.
Bei der Schilderung kämpften Vater und Tochter zugleich mit den Tränen. »Vergessen würde den Überlebenden abermals das Leben rauben«, sagte seine Tochter. Weintraub saß aufrecht im Anzug mit Fliege unter den rund 1000 Gästen, ein Grandseigneur mit scharfem Verstand. Am 1. Januar nun wird Leon Weintraub 100 Jahre alt.
Weintraub, der polnische Jude, 1926 in Łódź geboren, hat immer wieder über diese für ihn ikonische Szene berichtet, weil sie etwas mit ihm gemacht habe: »Ich betrete den Appellplatz, und sofort kommen leichte Störungen und Vibrationen vom Boden über die Füße an meinen Körper. Es sind die Erinnerungen an diesen Haufen von Menschenkörpern in der Gefangenenzeit«, sagte Weintraub vor zwei Jahren in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. Der spätere Arzt emigrierte 1969 von Warschau nach Schweden.
In dem Oberpfälzer Konzentrationslager vegetierten die Gefangenen dahin
Bis heute gebe es diese Bilder von Flossenbürg in seinem Kopf, »obwohl ich zu dieser Zeit mehr tot als lebendig war«, berichtete er. Das Übernachten in extrem beengten Verhältnissen, die Kälte und der Hunger: »Das habe ich nicht einmal in Auschwitz so erlebt oder in den Außenlagern von Groß-Rosen wie in diesem furchtbaren Flossenbürg.«
In dem Oberpfälzer Konzentrationslager vegetierten die Gefangenen dahin, apathisch, ausgemergelt von den Arbeiten im Steinbruch und dem permanenten Hunger: »Der Tod war etwas Gegebenes. Es war keine Überraschung, dass man sterben sollte.«
Bei seiner Befreiung wog Weintraub nur noch 35 Kilo und wurde wegen Typhus behandelt.
1939 war er 14 Jahre alt, als die Wehrmacht in seine Heimatstadt Łódź einmarschierte. Kurze Zeit später errichteten die Deutschen das Ghetto Litzmannstadt. Seine Mutter versuchte immer, ihren Kindern Mut zu machen. »Wir sind zusammen, uns geht es nicht so schlecht«, soll sie gesagt haben.
Im August 1944 war er mit seiner Mutter und drei Schwestern ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Seine Mutter sah er auf der berüchtigten »Selektions-Rampe« zum letzten Mal. Nach einigen Wochen gelang es ihm, aus dem Lager zu entfliehen, indem er sich, unbeobachtet vom Wachpersonal, einem Transport zu einem Außenlager des KZ Groß-Rosen anschloss.
Im Februar 1945 trieben die Nazis ihn und andere auf einen Todesmarsch in das KZ Flossenbürg. Dort angekommen, »wurden wir für die Quarantäne auf einer Pritsche zu viert untergebracht, ich bin ab und zu einmal aufgewacht und spürte morgens mit einem kalten Fuß an der Wange: Ein Leidensgenosse war für immer eingeschlafen«.
Die französische Armee befreite ihn schließlich bei Donaueschingen
Bei der Evakuierung von Flossenbürg wurde er über verschiedene Stationen weiter in das Außenlager Offenburg des KZ Natzweiler-Struthof deportiert. Die französische Armee befreite ihn schließlich bei Donaueschingen. Weintraub wog nur noch 35 Kilogramm und musste wegen einer Typhusdiagnose mehrere Wochen im Krankenhaus behandelt werden.
Er kämpfte sich zurück ins Leben. Aus seiner Lagererfahrung heraus habe er die Entscheidung gefällt, Arzt zu werden und in der Geburtshilfe tätig zu sein, sagte er einmal.
Er mischt sich bis heute ein, appelliert an die junge Generation, nicht zu vergessen.
Weil er miterlebt habe, wie Tausende Menschen ermordet wurden, wollte er eine menschliche Welt schaffen, so interpretiert Jörg Skriebeleit das, der Leiter der Gedenkstätte Flossenbürg. »Weil ich so viel mit dem Tod konfrontiert war, wollte ich mich für das Leben einsetzen«, sagte Weintraub dieser Zeitung.
Weintraub praktizierte nach dem Medizinstudium in Göttingen zunächst als Arzt in Warschau. Doch 1969 emigrierte er nach einer antisemitischen Welle in Polen nach Stockholm und begann dort quasi sein »drittes« Leben.
Zutiefst besorgt über die jüngsten Entwicklungen zeigte sich Weintraub vor zwei Jahren gegenüber Studierenden der Freien Universität Berlin. Rund 180 Interessierte waren zu seinem Vortrag gekommen. »Judenhass und Antisemitismus wachsen immer schneller. Auch an den Universitäten. Wieder wird auf andere Menschen herabgeschaut und gesagt: wir und die. Das führt geradewegs in die Vernichtung«, sagte Weintraub, während man durch das Fenster ein großes Polizeiaufgebot sah, denn in einem anderen Hörsaal fand zeitgleich ein »Dialogversuch mit Palästina-Aktivisten« und der Uni-Leitung statt.
Er selbst hatte den 7. Oktober 2023 in Tel Aviv erlebt, wo er Freunde besucht hatte
Unbegreiflich sei für ihn, fuhr Weintraub fort, dass »Menschen an den Universitäten und vor allem Studenten völlig außer Acht lassen, was Hamas angerichtet hat, auf welche Art sie Menschen ums Leben gebracht hat«. Er selbst hatte den 7. Oktober 2023 in Tel Aviv erlebt, wo er Freunde besucht hatte. »Dieses lang gezogene Heulen der Sirenen hat mich in den September 1939 zurückversetzt, als Deutschland Polen überfiel.« Er wünsche sich, dass nach 2000 Jahren »Verfolgung an meinem Volk endlich Schluss ist. Sie sollen aufhören, uns anzugreifen«.
Als Kind, sagte Weintraub einmal gegenüber dieser Zeitung, habe er sich, sooft es ging, ins Kino hineingeschmuggelt, weil seine Familie ihm nach dem Tod des Vaters keine Eintrittskarte bezahlen konnte. »Ich war schon damals ein leidenschaftlicher Kinobesucher«, sagte er. »Es war immer ein Blick in ein anderes Leben.«
Vor zwei Jahren stand Weintraub dann als einer von sechs Holocaust-Überlebenden auf dem roten Teppich im Delphi-Filmpalast, um bei der Berliner Premiere des Kinofilms Führer und Verführer dabei sein zu können. In dem Anti-Nazi-Drama kommt er ebenfalls als Zeitzeuge zu Wort. »Solche Filme sind wichtig, sie zeigen, was ich erlebt habe«, sagte er. Jahr für Jahr investierten Länder viel Geld in Soldaten und Waffen – dabei könne man damit so viel Gutes schaffen. »In Frieden miteinander zu leben, kostet nichts.«
Anlässlich seines 98. Geburtstags schilderte Weintraub auch im Studio der Talkshow Markus Lanz mit klarer Stimme und einem ausgezeichneten Erinnerungsvermögen einem breiten Fernsehpublikum seine Erlebnisse in Auschwitz, Groß-Rosen und Flossenbürg, erzählte von den Todesmärschen. Sein hohes Alter merkte man ihm nicht an.
Es schmerze ihn, dass einige der Opfer gar nicht über ihr Leid unter dem Nationalsozialismus sprechen könnten, während andere von nichts anderem reden könnten. »Ich bin Rationalist, ich habe die Sache zwar nicht überwunden, aber verarbeitet in meinem Gehirn«, sagte Leon Weintraub im TV-Studio. »Ich sehe ein, dass es nützlich ist, darüber zu sprechen und über das wahre Gesicht der Nazis zu berichten.« Denn er habe nicht zulassen wollen, »dass Hitler siegen wird«.
Für das Sprechen über seine Zeit in den nationalsozialistischen Lagern habe es Zeit gebraucht.
Nach Flossenbürg kehrte er 2008 zum ersten Mal zurück und empfand eine Art von »Genugtuung«, wie er es ausdrückte. Für das Sprechen über seine Zeit in den nationalsozialistischen Lagern habe es Zeit gebraucht. Doch dann reiste er mit der kompletten Familie an, mit den drei Söhnen, seiner Tochter, den Enkeln und seiner Frau. Leiter Jörg Skriebeleit, der das Verbindende der Gedenkstätte als »Generationenort« herausstellt, erinnert sich noch gut: »Es war gleich eine menschliche Wärme und Nähe da.«
Bis heute suche man auch das Wort »Hass« in Weintraubs Wortschatz vergebens. Das mache ihn so außergewöhnlich. »Er ist einfach ein autonomer, reflektierter und herzenswarmer Mensch.« Und er mische sich bis heute politisch ein, appelliere an die junge Generation, das Geschehene nicht zu vergessen.Nach Flossenbürg sei er sodann jedes Jahr mit einem »positiven Gefühl« gefahren, weil er die anderen Überlebenden und das Gedenkstättenteam wiedergesehen habe, erzählte der Jubilar vor zwei Jahren. Gesundheitlich gehe es ihm trotz des hohen Alters gut.
Wenn in Stockholm am 1. Januar in großem Kreis gefeiert wird, ist auch der Gedenkstättenleiter vertreten. »In freundschaftlicher Verbundenheit«, wie Skriebeleit sagt. Als Überraschung werde er ein Geschenk mitbringen, das mit Weintraubs musikalischem Herzensstück, Beethovens Violinkonzert in D-Dur, zu tun habe. Mehr wolle er vorab nicht verraten.
Mitarbeit: Christine Schmitt und Michael Thaidigsmann