Berlin

Im Sommer bei Weimanns

Wenn die Tram Nummer 13 am U-Bahnhof Osloer Straße anhält, die Obst- und Gemüse-Läden, eine Bäckerei und eine Eckkneipe zurückliegen, öffnet sich links die Heinz-Galinski-Straße. Sie liegt abseits des Verkehrs auf der großen Osloer, vier- und fünfstöckige Häuser, ein Laden für arabische Snacks und ganz vorn, an der Ecke Heinz-Galinski- und Iranische Straße, steht das Jüdische Krankenhaus, das dort – im Ortsteil Wedding, im Bezirk Mitte – seit 1914 zu Hause ist. Bis heute ist das Haus Anlaufstelle für Patienten

1904 allerdings gab es noch Diskussionen darüber, ob die Verlegung des Krankenhauses von der Oranienburger Straße in den Norden der Stadt eine gute Idee wäre. »Der Weg ist für orthodoxe Juden an Schabbat nahezu unmöglich«, meinten die einen – einfach in die U6 zu steigen, wie es heute wohl am schnellsten unter der Woche geht, war damals keine Option, denn die U6 gab es noch nicht. Die andere Seite lobte das Hygienekonzept am neuen Standort. Letztendlich sprach sich die Repräsentantenversammlung im April 1904 einstimmig für den Ankauf des Grundstücks an der Ecke Heinz-Galinski- und Iranische Straße aus.

GEGENTEIL Der Historiker Carsten Schmidt hat unter anderem diese Geschichte in seinem Buch Bittersweet – Jüdisches Leben im Roten Wedding 1871–1933 aufgeschrieben und den Vibe des Weddings, der Kaufleute und Fabrikanten ebenso anzog wie notgedrungen arme jüdische Familien, die in dem Ortsteil einen Anlaufpunkt in sozialen und gesundheitlichen Notlagen fanden, spannend eingefangen.

1914 wurde das Jüdische Krankenhaus eröffnet.

Es ist eine Reise durch einen Teil der Stadt, der nicht unbedingt schön war, der zunächst keine Künstler oder Literaten anzog. Der Wedding war, wie es Schmidt ausdrückt, »das komplette Gegenteil zum Bayerischen Viertel oder anderen westlichen Stadtteilen«. Und doch entstand hier jüdisches Leben, entstanden Synagogen, Vereine und vor allem Wohlfahrtseinrichtungen.

Und für die musste geworben werden. Ein Ort dafür war »Weimanns Volksgarten« an der heutigen Badstraße. Mit Open-Air-Festen bei günstigem Eintritt versuchten jüdische Vereine, Gelder für geflüchtete Juden aus Russland oder Polen zu sammeln, Juden zu unterstützen, die in Palästina lebten und im Ackerbau arbeiteten, oder Witwen zu helfen. Der Volksgarten, der, wenn es dunkel wurde, 12.000 Lampions zum Leuchten brachte, war ein Ort, an dem arme Menschen im Wedding für einen Moment die Sorgen des Alltags vergessen konnten.

ALLTAG Denn der Alltag war alles andere als ein Sommerfest. Schmidt beschreibt das Leben in engen Mietshäusern, erzählt von knurrenden Mägen, die Kinder und Erwachsene nachts nicht zur Ruhe kommen ließen, und von einer, im Vergleich zum restlichen Teil der Stadt, hohen Kindersterblichkeit. Familien entschieden sich nicht freiwillig dafür, im Wedding zu leben, sie mussten es, weil sie keine andere Wahl hatten.

Es waren Frauen wie Erna Kalisch und Erna Pakscher, die sich um arme, geflüchtete oder aus dem Leben geworfene Jüdinnen und Juden kümmerten. Kalisch war Wohlfahrtspflegerin und sah im Wedding das Leid und die Folgen des Ersten Weltkriegs.

Pakscher war gebürtige Berlinerin und gilt, wie Schmidt es beschreibt, als »wichtigste Mäzenin für das Jüdische Altersheim im Wedding«. Sie »finanzierte den Neubau mit 200.000 Mark sowie einen Teil des Erweiterungsbaus, spendete 120.000 Mark im Jahr 1904 und hinterließ für die Einrichtung 520.000 Mark. Hinzu kommen mehrere Sonderstiftungen und viele Stunden des persönlichen Einsatzes, die in Zahlen nicht aufzurechnen sind«.

anstalt Ihr Auftreten war schlicht, zitiert Schmidt die Berlinerin Etty Hirschfeld: »Wenn sie in die Anstalt kam, hätte niemand in der Frau im einfachen schwarzen Kleid eine Millionärin vermutet, die beinahe ohne Ende zu geben bereit war.« Erna Pakscher ist auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee begraben.

Männer prägten das religiöse Leben im Wedding. Eines der vier Kapitel in Bitter­sweet ist den vier Rabbinern des Stadtteils gewidmet. Im Mittelpunkt steht dabei der 1899 gegründete Verein »Ahawas Achim«, der durch die Arbeit von Rabbiner Ludwig Pick, Rabbiner Jacob Sänger, Rabbiner Arthur Rosenthal und Rabbiner Siegfried Alexander nachhaltig geprägt wurde. So setzte sich Rosenthal bei Fabrikunternehmern dafür ein, dass jüdische Arbeiter nicht mehr am Schabbat arbeiten mussten, sondern die Zeiten in der Woche von Montag bis Freitag herausarbeiten konnten.

Bevor sich der Verein 1939 unter dem Druck der Nationalsozialisten auflösen musste, wirkte Rabbiner Siegfried Alexander am längsten im Wedding. Seine Familie und er wohnten in der Badstraße 44, der Weg zur Synagoge in der Prinzenallee 87, beschreibt Schmidt, war kurz. Die Alexanders hatten drei Kinder – zwei Töchter und einen Sohn, Yisrael.

BARS Yisrael Alexander musste sich als Teenager von den Eltern trennen. Die Schoa überlebte er in England, später wanderte er nach Israel aus. Seiner Tochter Leah zuliebe hat Alexander einige Anekdoten aus seiner Jugend im Wedding aufgeschrieben. In Bittersweet sind sie zum ersten Mal veröffentlicht.

Männer prägten das religiöse Leben im Wedding.

Er spricht über das Aufwachsen als Rabbinersohn, über Anerkennung und Gottesdienste, aber auch über nächtliche Barbesuche, in denen man rein gar nichts machte, einfach nur quatschte und das Zusammensein mit Freunden genoss. So schön der Abend war, so wenig begeistert fiel der Empfang zu Hause aus

Denn die Eltern sorgten sich. »Es war auch unannehmbar, im Gegensatz zu heute, in meinem Alter in der Nacht so herumzulaufen! Einen Türschlüssel hatte ich nicht mit. Ich habe geklingelt, die Tür öffnete sich, da stand Papa in seiner Robe, und seine ausgestreckte Hand fand ihr Ziel auf meiner Backe. Glauben Sie mir: So einen Streich habe ich nie wieder gemacht.«

RUNDGANG Nicht erst dieses Kapitel macht das Buch lesenswert. Wer heute in den Wedding fährt, vom Gesundbrunnen die Badstraße entlangläuft, in die Exerzierstraße einbiegt und an der Ecke Heinz-Galinski- und Iranische Straße vor dem Jüdischen Krankenhaus stehen bleibt, der denkt vielleicht an die Jüdinnen und Juden, denen Carsten Schmidt sein Buch auch gewidmet hat.

»Hier soll an alle jüdischen Bewohner des Weddings erinnert werden, an die heute niemand mehr denkt, weil es keine Nachlässe und kaum biografische Spuren gibt, aber auch an die Kaufleute, die im Wedding mutig ihr Glück suchten, und an die jüdischen Kinder, die nie das Licht der Welt erblickten oder das erste Lebensjahr erreichten und in keinem Buch vorkommen.« Ein bisschen tun sie es jetzt.

Carsten Schmidt: »Bittersweet – Jüdisches Leben im Roten Wedding 1871–1933«. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2023, 168 S., 18 €

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