Porträt der Woche

»Ich möchte Tora lesen«

Trainiert dreimal die Woche: Susan Borofsky (54) bei ihren Yogaübungen Foto: Alexandra Umbach

Porträt der Woche

»Ich möchte Tora lesen«

Susan Borofsky wünscht sich Vielfalt in der Einheitsgemeinde

von Annette Kanis  04.03.2010 00:00 Uhr

Am Vormittag arbeite ich in der Internationalen Schule in Düsseldorf. Ich bin verantwortlich für das Theaterprogramm, für Musikunterricht und Tanz. Und mit den älteren Schülern mache ich auch Yoga. Ich bin sehr glücklich, dass ich den Job habe. Ich liebe diese Schule, die Menschen dort sind so offen! Ich bekomme viel Unterstützung von der Schulleitung, sie ermöglicht, dass ich mein Talent für die Kinder nutzen kann.

Eigentlich bin ich Schauspielerin und Sängerin. Ich habe an der University of Michigan und an der University of Southern California den Master of Fine Arts gemacht. Nachdem ich meinen Mann, der aus Deutschland stammt, kennengelernt hatte, lebten wir schon einmal vier Jahre in Stuttgart, dort wurde 1993 auch unser Sohn Robin geboren. Dann gingen wir nach New Jersey. Ich hatte Engagements am Theater, am Broadway, an der New York City Opera und bekam einen Preis als beste weibliche Sängerin von der Manhattan Cabaret Association. Dann kam 9/11, der 11. September 2001. Mein Mann – er ist Versicherungsmakler – war in seinem Büro im 103. Stock des zweiten Gebäudes des World Trade Centers, als es passierte. Er sah das erste Flugzeug und wusste sofort, dass er weg musste. Rannte die Treppen hinunter, erlebte die große Explosion, den Lärm, die Hitze. Als er unten war, stürzte alles in sich zusammen.

Danach waren wir traumatisiert. Es hat allein zwei Jahre gedauert, bis wir nicht mehr jeden Tag Angst hatten. Aber die Bedrohung, dieses Gefühl, es könnte etwas passieren, hat uns weiter begleitet. So sind wir vor knapp vier Jahren nach Deutschland gezogen.

Ich bin konservativ aufgewachsen, mein Vater war Gemeindevorsitzender. Als ich ins College ging, hatte ich relativ wenig Interesse am Judentum, ich kümmerte mich eher um meine Karriere. Aber bereits bei meinem ersten Deutschlandaufenthalt in Stuttgart bin ich sofort in die jüdische Gemeinde gegangen. Für mich war es sehr wichtig, in Deutschland Juden zu treffen. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der alles Deutsche abgelehnt wurde. Wir konnten keinen Mercedes kaufen, kein Siemens, alle Deutsche galten als Nazis, alles war schlimm, alles war furchtbar. Aber in Deutschland selbst habe ich nie Antisemitismus gespürt. Ich bin gern hier. Ich finde die Lebensqualität sehr hoch.

Damals in Stuttgart – ich war Mitte 30 – wuchs mein Interesse an Religion. Ich engagierte mich in der Gemeinde, lernte Hebräisch, sang jüdische Lieder. Zurück in den USA, fand ich eine fantastische reformierte Gemeinde. Dort fing ich nach 9/11 als Religionslehrerin an. Später war ich auch Kantorin. Das hat mir sehr geholfen während dieser Zeit.

gottesdienst Vergangenen Freitag war ich mit meinem Sohn im liberalen Gottesdienst im Nelly-Sachs-Haus, dem Elternheim der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Für mich sind Gottesdienst und Religion sehr wichtig – dieses innere Gefühl, mich zu stärken, neue Kraft zu finden.

Als ich nach Düsseldorf kam, bin ich sofort in die Synagoge gegangen. Und habe diesen wirklich orthodoxen Gottesdienst erlebt. Ein Jahr lang habe ich versucht, mich daran zu gewöhnen, zu akzeptieren, dass es hier in Deutschland anders ist. Und es hat mir wirklich nichts gebracht – darf ich das so sagen? Oben zu stehen, das war für mich sehr fremd. Es war so weit weg, ich fühlte mich ausgeschlossen als Frau. Ich konnte nicht mal alles verstehen. Das Gebet ist sehr schnell; ich meine, das ist okay, für die Menschen, die das mögen. Aber ich persönlich mag es nicht.

Ich habe mich nicht wohlgefühlt. Es war niemand schuld, und jemand hat zu mir gesagt, es ist hier nicht wie in den USA. Ja, das weiß ich. Aber wenn ich dieses Gefühl habe und ich sehe, dass wenig Leute in die Synagoge gehen, dann denke ich, liegt es vielleicht auch an der Form des Gottesdienstes. Ich möchte Tora lesen, darüber diskutieren, ich möchte die Gebete sagen, in einem Kreise zusammen mit anderen Menschen. Ich finde das so wichtig. Und das hat mir im orthodoxen Gottesdienst gefehlt.

In Düsseldorf gab es die Wahl zwischen Chabad und den anderen Orthodoxen. Es ist nicht okay, keine richtige Wahl zu haben. Ich finde den Chabad-Rabbiner einen unheimlich sympathischen Mann, ich finde den Gemeinderabbiner absolut in Ordnung und sehr nett, aber ich möchte kein orthodoxes Gebet besuchen. Und ich weiß, dass es anderen auch so geht.

Dann habe ich den Vorstandsvorsitzenden der Gemeinde angerufen. Ich dachte, ich kann selbst Kabbalat Schabbat leiten, und ich finde, als Mitglied einer Gemeinde ist es meine Verantwortung, etwas zu tun und zu geben, nicht nur zu nehmen. Juan-Miguel Strauss war angetan von der Idee, er und sein Vorstandskollege Oded Horowitz haben mich sehr unterstützt. Freunde aus den USA schickten 25 Gebetsbücher, so fingen wir an.

Seit zwei Monaten kommt ein Rabbinatsstudent vom Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg zu uns. Wir haben eine Zwischenlösung gefunden, und ich hoffe, dass es später zu einer Festanstellung kommt. Ich bin ganz begeistert von Paul Strasko, der vergangene Woche zum zweiten Mal die Gottesdienste geleitet hat. Am Samstag war ich mit meinem Sohn wieder dort. Wir haben gesungen und über die Parascha diskutiert. Dann haben wir zusammen gegessen, gemeinsam mit den alten Menschen im Nelly-Sachs-Haus. Es war ein sehr schöner Schabbat. Schließlich habe ich den Rabbinatsstudenten und seine Frau mit nach Hause genommen, wir haben Kaffee getrunken, später habe ich sie zum Flughafen gebracht. Und abends bin ich mit Freunden ins Kino gegangen: Sherlock Holmes, Originalfassung. Ich liebe Kino.

sport Neben den Vorbereitungen für meinen Unterricht an der Schule treibe ich regelmäßig Sport. Dreimal die Woche träiniere ich im Fitnessstudio Yoga. Außerdem lese ich viel: Bücher und Zeitungen, amerikanische, jüdische, deutsche.

Und ich treffe mich gern mit Freunden. In einem Café oder zum Mittagessen, das ist sehr amerikanisch. Am Dienstag und am Mittwoch war ich in der Stadt mit meiner Freundin, wir haben italienisch zu Mittag gegessen. Ich liebe es, mich stundenlang zu unterhalten.

Gestern war ich in Duisburg. Dort habe ich mich mit Michael Rubinstein getroffen, dem Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde, er ist ein guter Freund. In Duisburg leite ich einmal im Monat Kabbalat Schabbat. Die neueste Idee ist, dass ich kurz vor Pessach in den dortigen jüdischen Kindergarten gehe und mit den Kindern arbeite, mit Liedern, der Pessach-Geschichte, Theaterspiel.

Dann engagiere ich mich noch für das Kulturprogramm des Zentralrats der Juden. 2008 hatte ich meine erste Tournee, Auftritte in acht jüdischen Gemeinden. Das hat mir wahnsinnig viel Spaß gemacht. Bald erfahre ich die Termine für dieses Jahr. Mein Programm mit modernen jüdischen Liedern heißt »From Jerusalem to New York«.

wünsche Was ich mir für die Zukunft wünsche? Als Jüdin eine Wahl zu haben. Ich mag nicht die Unterdrückung durch die Orthodoxen. Ich wünsche mir eine starke, etablierte liberale Gruppierung innerhalb der Einheitsgemeinde. Ich wünsche mir, dass wir unterstützt werden und nicht immer bitten und betteln müssen. Dass wir angenommen und als gleichberechtigt angesehen werden. Eine pluralistische Gemeinde mit Toleranz füreinander, das wäre mein Traum.

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