Nachbarschaft

Hilfe statt Hetze

Das Café der Technischen Universität in der Charlottenburger Waldschulallee ist hell erleuchtet. An den Fenstern klebt Weihnachtsdeko, im Fernsehen läuft Harry Potter. Doch das scheint niemanden zu interessieren an diesem Nachmittag Anfang Januar. Auf den Tischen neben der Theke stehen riesige Thermoskannen mit Kaffee und Tee, daneben stapeln sich Tüten mit Zeichenblöcken und Buntstiften – ein Geschenk von Eltern der Heinz-Galinski-Schule, ebenso wie das Bastelmaterial und die vielen Spielsachen.

Denn anders als sonst treffen sich hier heute keine Studenten zum Kaffeeklatsch – seit Mitte Dezember dient das Café als Aufenthaltsraum für Flüchtlinge. 230 Menschen sind noch bis Ende Januar in der Turnhalle nebenan einquartiert – eine der eilig eingerichteten Räume der Berliner Unterkunftsleitstelle für Tausende von Flüchtlingen, die zumeist aus Syrien, Irak und Afrika stammen.

geschenke Gemeinsam mit den Flüchtlingskindern puzzeln, kneten und malen an diesem Nachmittag Familien von der jüdischen Nachbarschule. Die Elterninitiative begann mit einem Brief der Schulleitung: Nebenan würden Flüchtlinge einziehen, die Eltern sollten sich keine Sorgen machen. Doch Befürchtungen gab es keine. Stattdessen organisierten die Eltern spontan Geschenke und Spielsachen, um die neuen Nachbarn willkommen zu heißen – Dinge, die die Flüchtlinge mit sich nehmen können, wenn sie weiterziehen.

»Eigene Sachen, das ist ganz wichtig«, erklärt Rabbinerin Gesa Ederberg, deren jüngste Tochter die Gemeindeschule besucht. »In den Kriegsgebieten mussten die Menschen ja alles zurücklassen.« Anfangs beäugen sich die Kinder noch eher schüchtern. Dann fangen sie einfach an zu spielen. Memory, Puzzle, Uno. Es dauert nicht lange, da summt es wie in einem fröhlichen Bienenstock. »Wie heißt du?«, »Wie alt bist du?«, »Schau, das ist ein A-p-f-e-l.« Das Eis ist gebrochen.

Die Kinder lächeln einander an, verständigen sich mit Händen und Füßen, bringen sich gegenseitig Worte bei. Sie spielen, lachen und begutachten ihre Zeichnungen. Äußerlich sind sie kaum voneinander zu unterscheiden. Einziger Unterschied: Die Flüchtlingskinder tragen Hausschuhe.

Xbox »Es verbindet uns alle doch viel mehr, als uns trennt«, sagt Gökce Yurdakul nachdenklich. Ihre Tochter Daphne besucht die vierte Klasse der Heinz-Galinski-Schule. Erst wollte Daphne nicht mitkommen. Warum mit fremden Kindern basteln, die noch nicht einmal ihre Sprache sprechen, wenn sie zu Hause Xbox spielen kann? Doch die Mutter ließ nicht locker. »Juden sind auch einmal Flüchtlinge gewesen«, erklärte sie ihrer Tochter. »Manche Leute haben ihnen geholfen, viele Menschen haben es aber auch nicht getan.«

Nur in der konkreten menschlichen Begegnung erlebe man die Erfahrung von Flüchtlingen anders, nicht über Bilder in den Medien, ist Yurdakul überzeugt. »Darum geht es doch: Menschlichkeit weiterzugeben«, so Yurdakul, die Dozentin an der Humboldt-Universität ist. »Wir alle sind verantwortlich für die Gesellschaft. Das will ich nicht Pegida überlassen.«

Natürlich entstehen aus diesen Treffen keine tief greifenden Begegnungen, ergänzt Ruth Kinet, deren Sohn und Mann gerade mit einigen Jungen draußen Fußball spielen. »Aber sie können ein Anfang sein.« Eine passende Gelegenheit, um das diesjährige Schulmotto »Der Andere bin ich« praktisch anzuwenden.

Beschäftigung »Gerade für Kinder, die sich hier im Alltag bewegen, ist es wichtig, zu sehen, wer da wohnt, wer der andere ist, um Berührungsängste abzubauen«, findet die Journalistin. Was die Flüchtlinge am meisten brauchen, seien Sprache und Beschäftigung. Das Fußballspiel ist da ebenso willkommen wie ein paar erste Worte auf Deutsch. »Sonst bleiben die Menschen isoliert.«

Voller Stolz zeigt ein syrisches Mädchen Rabbinerin Ederberg ein selbst gemaltes Bild mit bunten Schmetterlingen. Ederberg fragt nach und erklärt beiläufig die Farben auf Deutsch. »Blau, Grün, Gelb«, wiederholt die Kleine konzentriert. »Das machst du sehr gut«, ermuntert die Rabbinerin das Mädchen, dessen Augen vor Freude aufblitzen. Stolz rennt es zu seiner Mutter, die etwas abseits sitzt und ihrer Tochter liebevoll über die Wange streicht.

Doch nicht an der Grundschule, auch am Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn in Mitte ist die Hilfsbereitschaft enorm. »Vielen Eltern und Schülern ist es besonders wichtig, selbst etwas zu tun und nicht nur Geld zu spenden«, weiß Ederberg. »Zum Beispiel Essen ausgeben, sich Zeit für Gespräche nehmen. Das ist echte Willkommenskultur.«

Pegida Die will auch Chaim Jellinek vermitteln – als Kontrast zu Pegida und Anti-Flüchtlings-Demos in anderen Berliner Bezirken. Drei seiner vier Kinder besuchen das Moses-Mendelssohn-Gymnasium. Als er und seine Frau Kyra erfuhren, dass ganz in der Nähe im St.-Hedwig-Krankenhaus eine Unterkunft für Flüchtlinge eingerichtet werden sollte, stand ihr Entschluss schnell fest: »Wir wollen helfen, und zwar praktisch.«

Wie unkompliziert Flüchtlingshilfe sein kann, bewies die Elterninitiative noch am selben Tag: Chaim Jellinek kontaktierte kurzerhand andere Eltern, Schüler und Schulleitung sowie die Synagoge Oranienburger Straße, die Caritas, umliegende Schulen und Läden. Der Zuspruch war überwältigend: Binnen weniger Stunden gab es nicht nur eine lange Mailingliste ehrenamtlicher Helfer, sondern tatkräftige Soforthilfe. So luden 30 Schüler des jüdischen Gymnasiums LKW-Ladungen des Berliner Senats mit Betten und Matratzen ab und richteten die Zimmer her – buchstäblich »auf den letzten Drücker«, denn am nächsten Tag standen die Flüchtlinge bereits vor der Tür.

An einem der darauffolgenden Tage lud Rabbinerin Ederberg spontan zu Kaffee und Sufganiot in die Synagoge Oranienburger Straße ein. 20 Flüchtlinge folgten der Einladung, die meisten von ihnen aus arabischen Ländern. »Ob jüdisch, muslimisch oder christlich – nicht eine Sekunde lang hat das eine Rolle gespielt«, betont die Rabbinerin.

annäherung »Da erübrigt sich das ganze Integrationsgerede«, ergänzt Jellinek. »Ob wir Juden sind oder nicht, ist für die Flüchtlinge nicht relevant. Wir machen uns viel zu wenig ein Bild davon, woher diese Leute kommen, was sie durchgemacht haben, wovor sie flüchten.« Da sei zum Beispiel ein syrischer Druse, dessen halbe Familie in Israel lebt und der vor dem Terror in Syrien flüchtete, oder der kurdische Jugendliche, der seit seiner Ankunft nur geschwiegen hat, aber beim Fußballspielen auftaute.

»Es geht hier nicht um Pädagogik, sondern um simple menschliche Kontakte mit Menschen, die genau das brauchen«, so Jellineks Eindruck. Dabei gehe es bei den Spielen mitunter auch heftig zu. »Doch bei allem kämpferischen Körpereinsatz verlieren die Spieler die anderen nicht aus dem Blick. Auch mein zehnjähriger Sohn bekommt seine Chance, ein Tor zu schießen, das hat mich total berührt«, sagt Jellinek, der die wöchentlichen Fußballspiele gemeinsam mit der katholischen Herz-Jesu-Gemeinde organisiert.

Zurzeit sind die Helfer dabei, einen festen Wochenplan auf die Beine zu stellen – vor allem mit Gesprächsgruppen aus Schülern und Eltern. »Wir haben hier eine echte Chance, zu zeigen, was es bedeutet, ein Einwanderungsland zu sein«, sagt Jellinek. Die entscheidende Erfahrung ist für ihn: »Jeder kann helfen. Das ist der Gegenentwurf zu Pegida: die Grenze im Kopf auflösen.«

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