Würzburg

Geschichte in sieben Kisten

Vor drei Jahren waren Christine Bach und Carolin Lange auf der Festung Marienberg in Würzburg mit Inventarisierungsarbeiten beschäftigt. Die beiden Referentinnen für Provenienzforschung staunten nicht schlecht, als sie in einem Depotraum im Keller des dort ansässigen »Museums für Franken« sieben Kisten mit zahlreichen jüdischen Ritualobjekten entdeckten. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste niemand im Museum von deren Existenz.

Die schweren Beschädigungen des Toraschmucks, der Chanukkaleuchter und Sederteller ließen vermuten, dass sich die Teile schon hier befunden haben müssen, bevor das Museum während der Bombardierung Würzburgs am 16. März 1945 zerstört wurde. Wie aber sind diese jüdischen Ritualobjekte einst hierhin gekommen? Vor allem, warum sind sie hier verblieben? Schließlich war 1947 von den US-Militärbehörden angeordnet worden, dass alle von den Nazis beschlagnahmten Ritualgegenstände der Jewish Restitution Successor Organization zu übergeben seien.

fundort Auf diese Fragen gab und gibt es keine Antworten. Die beiden Referentinnen schlugen daher vor, das Jüdische Museum München beratend hinzuzuziehen. Und mit diesem als Partner sind die Fundstücke im vergangenen Jahr zunächst aus Anlass des 80. Jahrestags der Novemberpogrome in der bayerischen Hauptstadt gezeigt worden. Mittlerweile sind sie an den Fundort zurückgekehrt, wo sie nun in sieben Glasvitrinen und auf einem 20 Meter langen Industrieregal zu sehen sind.

Der Titel der Ausstellung stellt klar, dass die Exponate während der Pogromnacht geraubt wurden. Und inzwischen weiß man auch wo.

Sieben Kisten mit jüdischem Material. Von Raub und Wiederentdeckung 1938 bis heute heißt die Ausstellung, und der Titel stellt klar, dass die Exponate während der Pogromnacht geraubt wurden. Und inzwischen weiß man auch wo.

Landgemeinden Fast nirgendwo in Deutschland gab es vor der Schoa eine solche Dichte an jüdischen Gemeinden wie im bayerischen Regierungsbezirk Unterfranken. Neben den mittelgroßen Israelitischen Kultusgemeinden in Würzburg und dem Distriktrabbinat Schweinfurt gab es zahlreiche kleine Landgemeinden – so in Arnstein, Ebelsbach, Gochsheim, Heidingsfeld, Miltenberg und anderswo.

Viele dieser Gemeinden bestanden seit Jahrhunderten, und ebenso lang hat es auch immer wieder Raub an jüdischem Besitz gegeben. So datiert die erste überlieferte Dokumentation jüdischen Lebens in Gochsheim aus dem Jahr 1409. In einem Briefwechsel besprachen Erkinger I. von Seinsheim, Freiherr von Schwarzenberg und der Fürstbischof zu Gerolzhofen die Aufteilung eines solchen Raubzugs.

400 Jahre später wird in Gochsheim Abraham Josef Reis geboren, der nach seiner Auswanderung als erster in den USA ordinierte Rabbiner in die Geschichte des Judentums eingegangen ist.

pogromnacht Am 9. November 1938 wurde dann zum letzten Mal in den unterfränkischen Synagogen geplündert. Nach der Schoa gab es sie nicht mehr. Lediglich in Würzburg entstand wieder eine jüdische Gemeinde. Die Ausstellung auf der Festung Marienberg aber lässt erahnen, welch blühendes jüdisches Leben es einst in unterfränkischen Städten und Dörfern gab. Die beiden Toraschilder aus der Synagoge in Gochsheim sind ein solcher Hinweis, und der nur noch als Sockel vorhandene Hawdalaleuchter am Ende des Ausstellungsraumes auch.

Das älteste Dokument stammt aus dem Jahr 1409.

»Zum ehrenden Gedenken an Frau Helene Eisenheimer« ist auf Deutsch und Hebräisch darauf eingraviert. Der Eisenwarenhändler Max Eisenheimer hatte den Leuchter einst der Schweinfurter Gemeinde in Erinnerung an seine Mutter gespendet.

Dem 71-jährigen Eytan Tel-Tsur, einem Besucher aus dem israelischen Kfar Saba, ist die Rührung deutlich anzusehen, als er den kleinen Sockel betrachtet – war der Stifter doch sein Urgroßvater. Ein kleines Stück zerbeulten Metalls, das eine tragische Geschichte erzählen kann.

Familiengeschichte Max Eisenheimer hat die Herrschaft der Nazis nicht mehr erlebt, seine Witwe aber wurde hochbetagt am 6. Oktober 1942 in Theresienstadt ermordet. Die Tochter der beiden, Eytans Großmutter Sabine, und deren Ehemann hatten das Geschäft in der Schweinfurter Spitalstraße übernommen. Sie hatten drei Kinder: Hertha, Herbert und Ernst, der Vater von Eytan.

Die Tragödie der Familie begann 1933. Hertha legte in diesem Jahr das Abitur ab, durfte aber als Jüdin weder an der Abi­turfeier teilnehmen noch studieren und nahm sich das Leben. In kurzen Abständen kehrten ihre minderjährigen Brüder Schweinfurt den Rücken und flüchteten nach Palästina. Die Eltern wiederum reisten nach Berlin und tauchten in der vermeintlichen Anonymität der Großstadt unter. Als die Verhaftungen und Deportationen begannen, nahm sich auch Eytans Großmutter das Leben.

Ihr Mann konnte sich noch nach Palästina retten, doch das Trauma der Verfolgung reiste mit ihm. Nachdem sein ältester Sohn im Januar 1945 im Kibbuz Suizid begangen hatte, schied kurz darauf auch Eytans Großvater aus dem Leben. Als Einziger aus der Familie war Eytans Vater Ernst übrig geblieben. Er musste mit diesem schweren Schicksal leben, änderte seinen Namen in Mordechai Tel-Tsur und heiratete 1942 eine emigrierte Berlinerin, mit der er vier Söhne bekam. Eytan ist der Zweitälteste. Er steht nun in der fränkischen Heimat seiner Vorfahren vor der Glasvitrine und betrachtet sichtlich gerührt den Sockel des Hawdalaleuchters, den einst sein Urgroßvater in Händen hielt.

Rückgabe Die Ausstellung ist im »Museum für Franken« noch bis zum 20. Oktober zu sehen, und die Frage steht im Raum, was danach mit den Exponaten geschehen wird. Natürlich kennt man auch in Würzburg die Washingtoner Erklärung vom Dezember 1998. Damals hatten 44 Staaten, zwölf nichtstaatliche Organisationen, insbesondere jüdische Opferverbände sowie der Vatikan eine – rechtlich allerdings nicht bindende – Übereinkunft getroffen. Demnach sollen während der Zeit des Nationalsozialismus geraubte Kunstwerke identifiziert, deren Vorkriegseigentümer oder Erben ausfindig gemacht und eine »gerechte und faire Lösung« gefunden werden.

Im Oktober vergangenen Jahres hat der Würzburger Stadtrat darüber beraten und schließlich den Grundsatzbeschluss getroffen, »die Provenienzforschung fortzusetzen, unrechtmäßig entzogene Kulturgüter entweder an Erbinnen und Erben zu restituieren oder an Institutionen zur treuhänderischen Verwaltung zu übergeben, die im Sinne der ursprünglichen Eigentümerinnen und Eigentümer agieren«.

Die Ergebnisse dieser Provenienzforschung sowie die Geschichte des unterfränkischen Judentums sollen zum Bestandteil einer neuen Dauerausstellung werden.

Darüber hinaus sollen die Ergebnisse dieser Provenienzforschung sowie die Geschichte des unterfränkischen Judentums zum Bestandteil einer neuen Dauerausstellung des Museums werden.

exponate Wo auch immer die Exponate hingehen werden – wenn die Ausstellung im Herbst ihre Pforten schließt, so sind sie inzwischen für die Nachwelt professionell fotografiert und dokumentiert worden. Im Verlag Hentrich & Hentrich ist der Katalog zu diesem einst in sieben Kisten verstauten Zufallsfund erschienen. Und wie das bei den Ausstellungskatalogen dieses Verlages üblich ist, wurde das Bildmaterial mit zahlreichen kleinen lesenswerten Essays angereichert.

Der Historiker Roland Flade führt in seinem Beitrag in die jüdische Geschichte der Region ein. Rotraud Ries, Leiterin des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken, gibt einen umfassenden Einblick in die Erinnerungskultur in Unterfranken von 1945 bis heute. Die beiden Finderinnen der sieben Kisten, Christine Bach und Carolin Lange, zeichnen – sich vorwiegend auf archivarische Quellen stützend – die Vorgänge während und nach der Beschlagnahme der jüdischen Ritualgeräte sowie ihre teilweise Restituierung nach 1945 nach.

Ein publizistischer Höhepunkt ist der Abdruck eines 1956 von Mordechai W. Bernstein in jiddischer Sprache veröffentlichten und nun erstmals vollständig auf Deutsch zugänglichen Aufsatzes. Darin berichtet er von seinem Besuch in Würzburg im Jahr 1949 und seiner damals erfolglosen Suche nach geraubten Judaica. Dieses geschichtliche Kapitel ist nach dem Zufallsfund von Würzburg ein ganzes Stück vorangekommen.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Auszeichnung

Düsseldorfer Antisemitismusbeauftragter erhält Neuberger-Medaille

Seit vielen Jahren setze sich Wolfgang Rolshoven mit großer Entschlossenheit gegen Antisemitismus und für die Stärkung jüdischen Lebens in Düsseldorf ein, hieß es

 16.09.2025

Erinnerung

Eisenach verlegt weitere Stolpersteine

Der Initiator des Kunst- und Gedenkprojekts, Gunter Demnig aus Köln, die Stolpersteine selbst verlegen

 16.09.2025

Porträt der Woche

Passion für Pelze

Anita Schwarz ist Kürschnerin und verdrängte lange das Schicksal ihrer Mutter

von Alicia Rust  16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  16.09.2025 Aktualisiert

Sachsen-Anhalt

Erstes Konzert in Magdeburger Synagoge

Die Synagoge war im Dezember 2023 eröffnet worden

 15.09.2025

Thüringen

Jüdisches Bildungsprojekt »Tacheles mit Simson« geht erneut auf Tour

Ziel des Projektes sei es, dem Aufkommen von Antisemitismus durch Bildung vorzubeugen, sagte Projektleiter Johannes Gräser

 15.09.2025

Essen

Festival jüdischer Musik mit Igor Levit und Lahav Shani

Der Festivalname »TIKWAH« (hebräisch für »Hoffnung«) solle »ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten« setzen, hieß es

 15.09.2025

Berlin

Margot Friedländer Preis wird verliehen

Die mit insgesamt 25.000 Euro dotierte Auszeichnung gehe an Personen, die sich für Toleranz, Menschlichkeit, Freiheit und Demokratie einsetzen

 15.09.2025