Vortrag

Gedanken und Gewissen

Natan Sharansky und Ágnes Heller Foto: Miryam Gümbel

Vortrag

Gedanken und Gewissen

Ágnes Heller und Natan Sharansky zu Gast bei der Europäischen Janusz Korczak Akademie

von Ellen Presser  16.04.2013 14:07 Uhr

Im März kam es in München bei der Europäischen Janusz Korczak Akademie zu einer denkwürdigen Begegnung. Die renommierte ungarische Philosophin Ágnes Heller und der aus der Ukraine stammende bekannte israelische Politiker Natan Sharansky waren Hauptredner der Tagung »Jüdisches Denken – Jüdische Denker«.

Sowohl Heller als auch Sharansky haben die negativen Konsequenzen unabhängigen Denkens in einem kommunistischen System am eigenen Leib schmerzlich erlebt. Den Bericht ihrer Erfahrungen wollten sich viele der studentischen Zuhörer nicht entgehen lassen. Zunächst aber erkundeten sie gemeinsam mit Heller Themenfelder wie »Judeophobie, Antijudaismus und Antisemitismus« sowie »Was ist jüdische Philosophie?«. Dabei erlebten die Studenten, wie ein an marxistischer Dialektik geschulter, von den Erfahrungen zweier Diktaturen gezeichneter Geist philosophische Fragestellungen angeht.

Emigration Ágnes Heller, 1929 in Budapest geboren, überlebte den Judenhass ihrer Landsleute und die Vernichtungspolitik der deutschen Invasoren. Mit ihrem Eintritt ins Milieu oppositioneller Intellektueller geriet sie zunehmend in Konflikt mit der herrschenden Kommunistischen Partei in Ungarn. Die Erfahrung von Bespitzelung und Berufsverbot und schließlich ihre Emigration nach Australien 1977 fielen in eine Zeit, als Anatoli Borissowitsch Schtscharanski die »Refusnik-Bewegung« gründete – und als Dissident deshalb für neun Jahre im Gulag landete.

Während Heller von ihrem Doktorvater Georg Lukács inspiriert wurde, prägte den 1948 in Stalino geborenen Diplommathematiker Sharansky vor allem der Dissident und Physiker Andrej Sacharow. Hellers Weg führte über eine Soziologie-Professur in Melbourne 1986 an die New School for Social Research in New York, wo sie Hannah Arendts Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl für Philosophie wurde. Sharansky erlangte – im Austausch gegen einen sowjetischen Spion – 1986 seine vorzeitige Entlassung aus dem Gulag und begann in Israel ein neues Leben als Publizist, Politiker und Minister verschiedener Ressorts.

Für den Vortrag, den Ágnes Heller zum Ausklang ihres München-Aufenthalts für den Frauenlernkreis im Jüdischen Gemeindezentrum hielt, war ihr Zitat »Angst liegt nicht in meinem Charakter« ausgewählt worden. Zutreffend für sie und Sharansky sind eher Begriffe wie analytische Herangehensweise, Widerspruchsgeist und Konsequenz. Und wer Heller nur einen Vortrag lang erlebt hat, weiß, dass Aufgeschlossenheit, Lebensfreude und Humor unabdingbar dazukommen.

Insofern war es kaum verwunderlich, dass die Philosophin trotz umfangreichen Arbeitspensums mit ihrer Gastgeberin Eva Haller die Alte Pinakothek, das Jüdische Museum und die neue Münchner Hauptsynagoge besichtigte und zudem auch einen Opernbesuch zu genießen wusste. Zwischen diesen Besuchen waren Spaziergänge durch die Münchner Innenstadt ein absolutes Muss. Körperliche und geistige Beweglichkeit gehen bei Heller ganz selbstverständlich einher.

Tapferkeit Dialektisch geschult wägt Heller jeden Begriff ab. Selbst ihren eigenen, bereits erwähnten Satz »Angst liegt nicht in meinem Charakter« hinterfragt sie und macht sich darüber Gedanken, worin die jeweiligen Unterschiede zwischen Angst, Furcht und Tapferkeit liegen. Was bringt Menschen dazu, sich tapfer zu verhalten?

Und dann erzählt Heller, wie sie einst als Mädchen, ihres falschen Schutzpasses beraubt, Einlass ins Budapester Ghetto suchte. Ohne Papiere konnte nur die Begleitung durch einen deutschen Soldaten helfen. Einer, den sie auf der Straße fragte, kam mit. Zwei hätte Heller nie angesprochen: »Denn sie fürchten sich vor dem Urteil des anderen. Wenn sie allein sind, dann können sie auf ihr Gewissen hören.«

»Im Kommunismus«, erklärte Heller, »erkannten viele die Autorität von Stalin an, noch im Gulag glaubten sie, an ihrer Strafe sei etwas Gerechtes.« Auch in der ungarischen Geschichte gebe es Beispiele für dieses Muster, so Heller. Die Leute wollten vergessen, dass sie dabei gewesen seien; wer sich der einen Autorität gebeugt habe, empfinde nun Scham und wolle auch der neuen Autorität nicht ins Auge blicken.

Selbstkritisch räumt Heller ein: »Ich habe mich nicht allzu schnell daran gewöhnt, Nein zu einer bösen Macht zu sagen. Dazu braucht man Zeit. Ich will nicht meine Vergangenheit verschönen. Aber in der Zeit der Schoa habe ich mich wirklich tapfer benommen. Denn ich wusste, es geht um unser Leben, und wenn man feige ist, dann verliert man das Leben.«

Kongress

Neue Bündnisse finden

Auch feministische Kreise schlossen jüdische Frauen nach dem 7. Oktober aus. Auf dem Jewish Women* Empowerment Summit soll das thematisiert werden. Ein Essay der Keynote-Speakerin

von Merle Stöver  03.09.2025

Darmstadt

Jüdische Kulturwochen: Großer Andrang bei Eröffnung

Das Programm schließt den Extremismusforscher Ahmad Mansour mit ein

von Imanuel Marcus  03.09.2025

München

»In unserer Verantwortung«

Als Rachel Salamander den Verfall der Synagoge Reichenbachstraße sah, musste sie etwas unternehmen. Sie gründete einen Verein, das Haus wurde saniert, am 15. September ist nun die Eröffnung. Ein Gespräch über einen Lebenstraum, Farbenspiele und Denkmalschutz

von Katrin Richter  02.09.2025

Universität

Starke junge Stimme

Seit dem 7. Oktober 2023 versucht der Verband Jüdischer Studenten in Bayern, mit seinen Aktivitäten vor allem auf dem Campus einen Weg zurück zur Normalität zu finden

von Luis Gruhler  02.09.2025

Hilfe

»Licht in den Alltag bringen«

Naomi Birnbach über den Berliner Mitzwa Express, der mit Kindern arbeitet und den vom Terror schwer getroffenen Kibbuz Kfar Aza unterstützt

von Christine Schmitt  02.09.2025

Unterstützung

38.000 jüdische Kontingentflüchtlinge erhielten Rentenausgleich

Nach Angaben der Stiftung Härtefallfonds des Bundes wurden insgesamt 169.000 Anträge geprüft

 01.09.2025

Vorschau

Volk des Buches

Zum Europäischen Tag der jüdischen Kultur

von Nora Niemann  01.09.2025

Meinung

Schlechte Zeiten für Frankfurts Juden

Durch die Radikalisierung der israelfeindlichen Szene ist die jüdische Gemeinschaft der Mainmetropole zunehmend verunsichert. In der Stadtgesellschaft interessiert das jedoch nur wenige

von Eugen El  01.09.2025

Vor 80 Jahren

Neuanfang nach der Schoa: Erster Gottesdienst in Frankfurts Westendsynagoge

1945 feierten Überlebende und US-Soldaten den ersten Gottesdienst in der Westendsynagoge nach der Schoa

von Leticia Witte  01.09.2025