Mit diesem Angebot hatte Wenzel Michalski nicht gerechnet. Gerade plante er seine berufliche Zukunft als Berater im PR-Bereich, da erfuhr er, dass jemand seinen Namen für die frei werdende Geschäftsführerstelle beim Freundeskreis Yad Vashem in den Ring geworfen hatte. Schließlich erreichte ihn ein Anruf von Kai Diekmann, Vorsitzender des Kreises. Der ehemalige »Bild«-Chef wollte gern mit ihm darüber sprechen. Er habe sofort Ja gesagt, so Michalski an diesem Morgen Anfang April.
Jetzt ist er auf dem Sprung und dabei, sich von seiner Mutter, Petra Michalski, zu verabschieden, denn er reist sogleich nach Israel, wo er in seine neue Tätigkeit eingeführt werden soll.
Viel Zeit für eine lange Unterhaltung mit ihr bleibt nicht – sein Handy klingelt unentwegt. »Ich muss jetzt schon viel organisieren und mir ein Team aufbauen, mit dem ich demnächst anfangen kann«, meint der 62-Jährige. Schließlich legt er sein Smartphone beiseite und setzt sich entspannt hin. Auf dem Tisch liegen Flyer des Projekts »DENK MAL AM ORT. Jedes Haus hat eine Geschichte zu erzählen«. Seine Mutter wird über die »Familie Michalski – untergetaucht am Alexanderplatz« berichten.
Nicht nur über seine neuen Herausforderungen freut sich Wenzel Michalski, auch über den einen Satz im Koalitionsvertrag der neuen Regierung: dass die Einrichtung eines Yad-Vashem-Bildungszentrums in Deutschland unterstützt werden soll. »Es ist doch naheliegend, Education-Programme anzubieten, denn es sollte eine der Hauptaufgaben sein, Polizisten, Lehrer und Juristen weiter fortzubilden.« Unter Leitung seiner Vorgängerin Ruth Ur und Kai Diekmann habe sich der Freundeskreis zu einem wichtigen Akteur in der deutschen Erinnerungskultur entwickelt, sagt Michalski anerkennend.
Gegründet wurde der Freundeskreis 1997. Sein Ziel besteht darin, die Sammlungen und Expertise der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. »Schließlich ist Yad Vashem weltweit führend in der Forschung, besitzt eine unvergleichliche Sammlung von Artefakten, Dokumenten und Kunstwerken aus der Zeit des Holocaust und organisiert einzigartige Bildungsinitiativen auf der ganzen Welt«, so Michalski. Der Verein bietet zahlreiche Ausstellungen und Kampagnen in Zusammenarbeit mit Yad Vashem an wie beispielsweise »#LichtZeigen« oder »Sechzehn Objekte«.
Er hofft, noch größere mediale Präsenz zu erzielen
Wenzel Michalski möchte nun noch einen Schritt weitergehen und sich in die Debatten über Antisemitismus und Holocaust-Verleugnung einmischen. Unter anderem mit Events hofft er, noch größere mediale Präsenz zu erzielen. Und er will neue Wege finden, um weiter an den Holocaust zu erinnern. »In Zeiten des wachsenden Antisemitismus sind Verzerrung, Verharmlosung und Relativierung der Schoa brandgefährlich. Ich möchte dazu beitragen, die herausragende Arbeit von Yad Vashem weithin sichtbar zu machen. Helfen, die Wahrheit über den Holocaust zu bewahren und den Blick für die heutigen Auswüchse des Judenhasses zu schärfen, der sich ständig neuen Trends und Formen anpasst.«
»Mit Wenzel Michalski haben wir einen der erfolgreichsten Manager und Sprecher der Zivilgesellschaft gewonnen«, schreibt Kai Diekmann auf der Website des Vereins. In jüngster Zeit hat sich Wenzel Michalski noch mehr mit jüdischen Themen als bisher beschäftigt. Grund ist der 7. Oktober 2023. Aber auch die eigene Biografie. »Seit ich ein Kind war, habe ich immer die Geschichte meines Vaters gehört.« Franz Michalski, der Ende 2023 verstorben ist, war ein Holocaust-Überlebender.
Sein Sohn Wenzel hat als Junge schon vor mehr als 50 Jahren gespürt, dass »wir etwas anders waren. Mein Bruder und ich wurden von seiner Überlebens-Geschichte geprägt. Ich war meiner Umgebung gegenüber äußerst misstrauisch«. Wenn er unter anderen Menschen war, habe er sich immer gefragt, ob sie es waren, die seinen Vater verfolgt hatten. »Das Misstrauen begleitet mich mein ganzes Leben.«Als 15- oder 16-Jähriger wollte er sich – damals lebte die Familie in der Nähe von Mannheim – nicht länger verstecken und erzählte von seiner Familiengeschichte, wann immer es möglich war. Seine damalige Erfahrung: »Es hat keinen Menschen interessiert. In meinem Freundeskreis wusste keiner, was ein Jude ist.«
Früher sei er als Moderator immer nervös gewesen, jetzt wurde er selbst zum Gefragten.
Nach dem Abitur zog er Anfang der 80er-Jahre nach Heidelberg, um dort Geschichte, vor allem jüdische Geschichte, und Politik zu studieren. »Da gab es Zeiten, in denen ich dachte, ich muss hier weg. Ich überlegte, nach Israel zu emigrieren.« Der anti-israelische Antisemitismus war bereits damals ausgeprägt, es war die Zeit, in der viele Studierende ihren Standpunkt mit »Atomkraft? Nein danke«-Buttons und der Kufija zum Ausdruck brachten.
Seine Magisterarbeit schrieb Wenzel Michalski in seiner Geburtsstadt Hamburg zu Ende und engagierte sich in der Erinnerungskultur. Er spürte, dass sich ganz allmählich etwas änderte. Eine erste Ausstellung über Juden in Altona wurde gezeigt, die erste Synagoge saniert und der Film Schindlers Liste kam in die Kinos. »Ich war überrascht über die bestürzten Gesichter nach der Premiere. Hat denn keiner etwas von der Schoa gewusst?«
Jahrzehnte später erlebte er Antisemitismus selbst. Sein jüngster Sohn, damals 14 Jahre alt, besuchte in Berlin-Friedenau eine Gemeinschaftsschule, in der er immer wieder körperlich angegriffen wurde. Seine Frau und er wandten sich an die Medien. »Wir wollten uns wehren.« Der Fall sorgte für großes Aufsehen.
Wenzel Michalskis Mutter erinnert sich: »Franz und ich besuchten die Schule und sprachen als Zeitzeugen vor den Schülern.« Michalski: »Aber ihr durftet nicht einmal vor allen Klassen sprechen!« Nur in der Jahrgangsstufe des Sohnes konnten seine Eltern berichten. Die Familie warf der Schulleitung Versagen vor, weil sie den Antisemitismus nicht erkennen wollte. Letztendlich wechselte sein Sohn sowohl die Schule als auch das Land.
Lange Zeit war er bei verschiedenen Fernsehsendern als Journalist tätig
»Als Journalist weiß ich, wie man etwas mobilisieren, wie man Veränderungen herbeiführen kann.« Wenzel Michalski bekam Einladungen zu mehreren Talkshows und wurde nicht müde, der Schule ein Fehlverhalten zu diagnostizieren. Früher sei er als Moderator bei Livesendungen immer unglaublich nervös gewesen, nun wurde er selbst zum Gefragten. »Es war eine anstrengende Zeit, auch emotional sehr belastend.«
Dabei half ihm die Routine, die sich mit den vielen Liveauftritten einstellte. Mehr als zwei Jahrzehnte war er bei verschiedenen Fernsehsendern als Journalist in leitenden Funktionen tätig – lange Zeit auch in London. 2010 wurde er Direktor von Human Rights Watch Deutschland. Seine drei Kinder studieren und arbeiten mittlerweile alle selbst in London, wo Michalski vor mehr als drei Jahrzehnten seine Frau kennengelernt hat. Heute lebt das Paar überwiegend in Berlin.
Seit dem 7. Oktober freue er sich über »jedes grüne Blatt, das im Winde weht«. Um abschalten zu können, wandert er gern in einsamer Natur und beobachtet Tiere. »Das steht im Kontrast zu den negativen Schlagzeilen, die gerade die Welt beherrschen.«
Wenn der Tag mehr als 24 Stunden hätte, würde er als Gitarrist wieder in einer Band spielen. Und Belletristik lesen. »Aber davor stehen Fachbücher.« Er steckt noch ein paar Flyer ein, zieht seine Jacke an und verabschiedet sich. Sein Kalender ist voll. Es gibt viel zu tun.