Es heißt, Geschwister sind die Menschen, zu denen man die längste Beziehung im Leben hat. In früheren Jahren gab es berühmte Geschwisterpaare, wie Fanny Hensel und Felix Mendelssohn Bartholdy, Miriam und Gad Beck, und es gibt sie weiterhin, beispielsweise die Schwestern der US-Pop-Band Haim. Wir haben uns in der jüdischen Gemeinschaft umgehört, wie es dort unter den Geschwistern so aussieht. Wann helfen sie sich? Wann gehen sie sich besser aus dem Weg, und wann vermissen sie sich?
Liara (14), Frankfurt
Ich habe einen kleinen Bruder und zwei ältere Schwestern. Und natürlich merke ich, wie es den anderen geht. Wenn der eine ruhiger ist, dann spüre ich das sofort und frage, was los ist. Ich habe immer das Gefühl, dass meine Geschwister für mich da sind. Und ich bin natürlich auch immer für sie da. Aber zu jedem habe ich eine ganz eigene Beziehung, ich kann mich mit allen stundenlang unterhalten, aber zu unterschiedlichen Themen. Mein jüngerer Bruder und ich sprechen richtig oft über Geschenke. Was wir uns wünschen. Und mit meinen Schwestern rede ich einfach über alles Mögliche. Einmal war Shanna bei einer Freundin in einer anderen Stadt zu Besuch. Als sie wiederkam, berichtete sie ausführlich. Sie macht mir auch immer meine Haare schön, und dabei haben wir auch ganz viele Talks. Wir können uns aber auch streiten. Ich finde, das ist relativ normal bei Geschwistern. Oft geht es dann um Klamotten. Wem gehört was? Aber egal, wie sehr wir uns streiten, wir lieben uns, und die Liebe wiegt mehr als die Auseinandersetzungen. Nach kurzer Zeit vertragen wir uns dann auch immer wieder. Meistens tun wir dann irgendwann einfach so, als wäre nichts passiert. Es gibt nie ein Gespräch. So sind wir halt. Aber wir wissen, dass es nie so gemeint war. Meine Geschwister wissen, dass ich immer für sie da bin, falls sie mich brauchen. Am Anfang haben wir meine große Schwester, die in Israel zur Schule geht, natürlich sehr vermisst, weil es einfach eine Umstellung war, dass nun ein Kind weniger zu Hause lebt. Dass da ein Platz frei bleibt, dass meine älteste Schwester am Schabbat nicht ihre Kerze mit uns anzündet. Aber dafür, dass sie auf einem anderen Kontinent lebt, sehen wir sie relativ regelmäßig. Ich finde, unsere Beziehung ist dadurch noch intensiver geworden. Obwohl wir vier alle eng miteinander sind, kann ich auch Zeiten genießen, in denen ich meine Eltern ganz für mich allein habe. Zum Beispiel letztens im Urlaub: Da gab es eine Situation, in der meine Geschwister ausgegangen waren und nur noch meine Eltern und ich da waren. Zusammen haben wir Karten gespielt, und das fand ich sehr schön. Also, ich könnte mir das jetzt nicht für mein ganzes Leben vorstellen, weil es dann ja langweilig wäre. Auch würden meine Geschwister mir definitiv fehlen. Ich bin von meinem Charakter her bestimmt kein Einzelkind, aber für einen Abend oder eine Woche kann ich es mir schon ohne Geschwister vorstellen.
Shanna (16), Frankfurt
Fast immer spüre ich, wie es meinen drei Geschwistern geht. Vor allem bei Liara. Ich kenne sie wahrscheinlich besser als jeder andere und weiß daher auch, wie sie gelaunt ist. Diese Laune färbt dann natürlich auch auf den anderen ab, wenn man zusammen in einem Haus wohnt. Liara und ich können viel Zeit miteinander verbringen. Wenn ich ihr die Haare glätte, was bestimmt zwei bis drei Stunden dauert, haben wir immer die längsten und tiefsten Gespräche. Aber auch wenn wir nach Hause kommen, erzählen wir uns, wie es war. Natürlich können wir nicht unendlich lange quatschen, weil wir uns dann irgendwann auf die Nerven gehen. Da wir vor den Ferien viel Stress mit der Schule hatten und zudem viel Zeit mit unseren jeweiligen Freunden verbrachten, konnten wir in der Zeit nicht mehr so viel gemeinsam unternehmen. Aber wenn wir was machen, dann haben wir immer sehr viel Spaß zusammen. Liara und ich streiten uns tatsächlich öfter, aber meistens über unnötige Sachen, wie zum Beispiel über Klamotten. Einige Interessen teilen wir, wie zum Beispiel Shoppen und Fitness. Und wir lieben es, uns über Dramen und Ähnliches zu unterhalten. Aber natürlich sind wir trotzdem auch sehr verschieden. Wir können beide voneinander lernen und uns sehr gut ergänzen. Unsere älteste Schwester besucht die Schule in Israel, was eine schwere Umstellung war. Besonders für mich. Ich weiß, Liara vermisst sie auch. Miriel ist halt meine große Schwester. Liara hat noch mich als große Schwester, aber ich habe nur Miriel. Plötzlich dann die Älteste zu sein, war schon ein sehr großer Switch. Außerdem hatte ich zu Miriel eine ganz andere Beziehung als zu Liara. Ich sage nicht, dass sie besser oder schlechter war, ich sage, dass Miriel halt meine große Schwester ist und Liara meine kleine. Ich vermisse es sehr, eine große Schwester bei mir zu Hause zu haben. Und jedes Mal, wenn sie uns besuchen kommt, merke ich umso mehr, wie sehr sie mir eigentlich fehlt. Aber auch Liara vermisse ich, wenn sie nicht da ist, denn bei ihr weiß ich, dass ich zu ihr kommen kann, wenn ich gerade nicht allein sein will. Wir können auch gemeinsam schweigen. Aber natürlich kann ich auch die Zeit genießen, in der ich alleine bin. Das ist normal in einem Haus, in dem eine große Familie lebt.
Timur Grafmann (38), Krefeld
Zwölf Jahre war ich alt, als ich mit meinen Eltern, meiner älteren Schwester und meinem jüngeren Bruder aus der Ukraine nach Deutschland kam. Wir sind altersmäßig sehr eng beieinander. In den ersten Monaten nach unserer Ankunft waren wir schon deshalb sehr miteinander verbunden, weil wir die hiesige Sprache nicht verstanden. Das änderte sich recht schnell, da wir in der Schule rasch Deutsch lernten. Zu dritt gingen wir morgens zu Fuß zur Schule. In der Anfangszeit waren wir viel zusammen. Weil man Geschwister hat, ist man generell ein etwas offenerer Mensch. Innerhalb weniger Monate fanden wir trotz der Sprachbarrieren Freunde. Aber als Geschwister sind wir natürlich trotzdem von Anfang an schon immer füreinander da gewesen und sind es auch weiterhin – obwohl wir in verschiedenen Städten wohnen. Nur mein jüngster, in Deutschland geborener Bruder und ich leben in Krefeld, mein anderer Bruder in Nordrhein-Westfalen und meine Schwester in Kanada. Wir sind alle miteinander in Kontakt. Es ist tatsächlich so, dass die Teilnahme an Geburtstagsfeiern ein Muss ist. Das ist bei uns normal und hat Tradition. Wer Geburtstag hat, wird eingeladen. Und man guckt natürlich immer, dass man zur Geburtstagsfeier kommen kann, im Notfall muss man Termine verschieben. Ansonsten telefonieren wir auch relativ häufig. Mein Bruder aus NRW kommt uns regelmäßig besuchen. Auch über Schabbat bleibt er bei uns. Mit meiner Schwester in Kanada bleiben natürlich in erster Linie Videotelefonate. Leider schaffen wir es nicht so oft, uns zu treffen. Ziel ist, sich alle drei Jahre zu sehen. Den »Krefelder« Bruder sehe ich natürlich relativ häufig – er wohnt nur ein paar Kilometer weit entfernt. Und immer wenn jemand Hilfe braucht, ruft man an und unterstützt sich gegenseitig. Generell ist es so, dass man sich unter Geschwistern durchaus streitet. Das ist ja kein Geheimnis. Bei uns ist es so, egal, was man einander an den Kopf wirft, wir sagen nach kürzester Zeit: »Sorry, war nicht so gemeint.« Auch wenn es so gemeint war. Und tatsächlich haben wir uns nie so zerstritten, dass wir gar nicht miteinander geredet haben. Wir sind da, zumindest was uns Geschwister angeht, eine lockere Familie, die auch mit Kritik umgehen kann. Es darf alles gesagt werden, was man so denkt. Der andere kann natürlich auch sagen, was er darüber denkt, und gut ist. In einer Familie mit vier Geschwistern gibt es Momente, in denen man sich vielleicht wünscht, Einzelkind zu sein. Aber meistens hat das dann tatsächlich mit irgendwelchen materiellen Dingen zu tun, und ich denke: Dann hätte ich die ganze Aufmerksamkeit, alle Geschenke und Süßigkeiten, was auch immer, nur für mich alleine. Wenn mir dieser Gedanke mal in früher Kindheit oder Jugend gekommen ist, war mir bewusst, dass es das nicht wert ist. Also ich bin sehr froh, Geschwister zu haben, mit denen man über alles reden kann, die einander unterstützen können. Familiärer Zusammenhalt, das muss ich so sagen, ist stärker als jeder freundschaftliche Zusammenhalt. Ich bin sehr glücklich, in eine Familie geboren worden zu sein, wo Eltern tatsächlich gesagt haben, sie wollen mehrere Kinder haben.
Jael Botsch-Fitterling (84), Berlin
Jedes Wochenende denke ich, jetzt würde ich gern meinen großen Bruder anrufen. Doch es geht leider nicht mehr, da Uri nun verstorben ist. Wir haben regelmäßig Kontakt gehabt. Kurz vor seinem Ende wurde unsere Beziehung noch enger. Zu seinem 85. Geburtstag im Oktober hab ich ihn in Hamburg besucht. Damals bedauerte er, nicht noch einmal nach Israel reisen zu können. Er war immer für mich da. Aber wir bewegten uns in Berlin in unterschiedlichen Gesellschaften, ich war Lehrerin, Studiendirektorin und bin SPD-Mitglied, er war Ärztlicher Direktor am Jüdischen Krankenhaus. Er mochte Sport, spielte Tennis und pflegte seine guten Beziehungen zu seinen Klassenkameraden, die ich nicht so gewahrt habe. Nach seiner Pensionierung zog er zu seiner Frau nach Hamburg, besuchte mich aber regelmäßig. Uri war mein großer Bruder, der mich oft begleiten musste, wenn meine Eltern nicht wollten, dass das einzige Töchterlein allein nach Hause geht. An Konflikte mit ihm kann ich mich nicht erinnern. Wir waren fünf Geschwister, auch mein mittlerer Bruder ist bereits gestorben. Meine anderen Geschwister, die in Hessen leben, sind viel jünger, weshalb ich zu ihnen eine ganz andere Verbindung habe. Unsere Eltern, die während der Schoa ins damalige Palästina, das heutige Israel, geflohen waren, haben mit uns Deutsch gesprochen. So kommt es, dass meine Muttersprache Deutsch ist, meine Sozialisierungssprache aber Iwrit. Meine jüngeren Brüder haben es nicht mehr gelernt, weil wir Mitte der 50er-Jahre nach Deutschland zogen. Uri und ich unterhielten uns aber weiter auf Iwrit – was die anderen öfter nervte, denn sie haben uns dann nicht verstanden. Große Meinungsverschiedenheiten hatten wir fünf Kinder nie. Wir haben eher erkannt, wann wir uns lieber ein bisschen aus dem Weg gehen. Aber das haben wir sehr, sehr diszipliniert gemacht. Und dann haben wir wieder telefoniert und natürlich alle Geburtstage zum Anlass genommen, uns zu melden. So kamen wir uns dann wieder näher.
Leider konnte ich krankheitsbedingt bei Uris Beerdigung nicht dabei sein. Kurz nach seinem Tod reiste ich mit meiner Enkelin nach Nahariya in Israel, wo wir aufgewachsen sind. Zu Uris Jahrzeit möchte ich seinen Namen auf einen Grabstein unserer Vorfahren eingravieren lassen.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt