Porträt der Woche

»Es liegt an uns selbst«

»Das Judentum und die Musik haben interessante Gemeinsamkeiten«: Alon Bindes (27) aus Stuttgart Foto: Mia Paulus

Porträt der Woche

»Es liegt an uns selbst«

Alon Bindes ist Musiker, Wirtschaftswissenschaftler und Funktionär aus Leidenschaft

von Brigitte Jähnigen  02.06.2024 09:40 Uhr

Israeli. Jude. Deutscher. Musiker. Wirtschaftswissenschaftler. Funktionär. Sohn. Enkel. Bruder. Onkel. Stuttgarter. Das alles und noch viel mehr macht meine Identität aus. Mein Jüdischsein habe ich nie versteckt. Kam ich an eine neue Uni, haben sich die Kommilitonen dafür interessiert. Sie waren neugierig.

Unangenehme Situationen gab es eher auf Partys. Israel ist für viele das Reizwort. Wie unsicher sich aber Juden seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 fühlen, ist den meisten Deutschen nicht bewusst oder egal. Da ist zu wenig Empathie und oft zu wenig Handeln vonseiten der Politik. Der 7. Oktober wird immer eine Zäsur im Leben der jüdischen Gemeinschaft sein. Auch in meinem.

Meine Familie stammt aus Polen und Israel. Ich bin dreisprachig aufgewachsen, in Stuttgart. Ich war im Kindergarten, im Religionsunterricht und Teil des Jugendzentrums Halev der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW). Ich bin und war immer sehr mit meinen Studien und der Musik beschäftigt. Nach dem Abitur dachten alle, na, der Junge wird Berufsmusiker.

Begonnen habe ich mit dem Geigenunterricht, als ich sechs Jahre alt war

Begonnen habe ich mit dem Geigenunterricht, als ich sechs Jahre alt war. Als Solist, im Duo und im Quartett nahm ich an zahlreichen Wettbewerben teil, spielte im Orchester der Musikschule Stuttgart und im Landesjugendorchester Baden-Württemberg, über das ich ein Musik-Stipendium in den USA bekam. Meine Geige war also immer dabei. Sehr bald entdeckte ich, dass das Judentum und die Musik interessante Gemeinsamkeiten haben: Weltweit trifft man sie an.

Als Berufsmusiker ist das Leben stringent auf die Musik ausgerichtet, aber ich hatte auch andere Interessen, wollte mich in der Informatik ausprobieren. Ich begann mit dem Studium der Computerlinguistik an der Universität Stuttgart. Meiner musikalischen Leidenschaft konnte ich dennoch gut im Studienalltag nachgehen und spielte bald im Akademischen Orchester der Universität Stuttgart.

Tourneen führten uns nach Südkorea, Taiwan, Hongkong, Kanada und USA. Trifft man auf Studierende aus Partnerorchestern in anderen Ländern, so stellt man oft kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede fest. Ungeachtet der Unterschiede bildet die Musik eine gemeinsame Sprache. Genau das und mehr sind Gemeinsamkeiten, die das Judentum und die Musik haben und ausmachen.

Als Berufsmusiker ist das Leben auf die Musik ausgerichtet – ich habe auch andere Interessen.

Ich wechselte zur Universität Hohenheim, wo ich mich dem Bereich International Business und Finance widmete. Das Stuttgarter Start-up Inkubator Programm »Let Us Start!« eröffnete mir diese neuen Perspektiven. Im Rahmen dieses Programms stellten wir im Team ein Start-up auf die Beine und mussten es in kurzer Zeit vom Konzept bis zur Durchführung bringen.

Gründungsbegeisterte sind real-optimistische Personen, die sich nicht unterkriegen lassen. Probleme sind nichts als eine Herausforderung. Wenn man mich fragt, dann ist genau das eine Form der jüdischen Idee von »Chuzpe«. Seinem Weg trotzig zu vertrauen, auch wenn das alltägliche Umfeld und die äußeren Einflüsse augenscheinlich dagegen stehen.

Mit dem Studienwechsel kam ein neuer Lebensabschnitt

Mit dem Studienwechsel kam ein neuer Lebensabschnitt. Zum einen eine neue Uni mit starker Ausprägung auf Wirtschafts- und Agrarwissenschaften. Zum anderen änderte sich mit der Umgebung meines Alltags auch meine persönliche Einstellung zum Ehrenamt, für das ich mich bis dahin nie wirklich begeistern konnte.

Weiterhin spielte ich im Akademischen Orchester und meldete mich freiwillig zum Reisepräsidium. Gemeinsam mit zwei weiteren Studierenden organisierte ich für unser Orchester eine umfassende Konzerttournee an die Westküste Kanadas und der USA – mit fast 80 Musikern.

Neben dem »musikalischen« Ehrenamt kandidierte ich zeitgleich für den Vorstand der Jüdischen Studierendenunion Württemberg (JSUW), dem damals frisch gegründeten Regionalverband in meiner Gegend, bei dem ich nun seit 2020 im Vorstand bin und seit 2021 das Amt des Präsidenten und Vorsitzenden innehabe. Die JSUW ist die Interessenvertretung für Jüdinnen und Juden zwischen 18 und 35 Jahren in Württemberg, sowohl für Auszubildende, Studierende als auch Young Professionals. Sie vernetzt sich interkulturell und zivilgesellschaftlich und steht für die Sichtbarkeit jüdischen Lebens und jüdischer Perspektiven in der Gesellschaft. Sie ermöglicht junges jüdisches Leben und Empowerment.

Unsere Highlights waren 2023 die Aufnahme in ein Gremium der Landeshauptstadt Stuttgart – der Partnerschaft für Demokratie, die Teilnahme an der Stuttgart Pride und die Auszeichnung mit dem Preis »Jüdische Initiative des Jahres« von der European Union of Jewish Students (EUJS) für unser gemeinsames Projekt mit dem Tschechischen Jüdischen Studierendenverband (CUZM).

Dann kam der 7. Oktober. Dank der zahlreichen vorangegangenen Aktivitäten wurde ich als Präsident der JSUW seitens der Politik in den kommenden Monaten regelmäßig angefragt. Seitdem bin ich im Austausch mit Entscheidungsträgern, sowohl in der Politik als auch an Universitäten und Hochschulen. Mit dem Ziel, jüdische Perspektiven zu teilen und Forderungen klar zu vermitteln. Bei politischen Treffen, bei Reden zu Solidaritätskundgebungen, beim Treffen und Übersetzen mit Angehörigen der Geiseln im Landtag wie auch auf der Straße beim Aufhängen von Postern der Verschleppten. Dieser Ausnahmezustand hält nun an.

Es ist zu begrüßen, dass die Politik in unserem Bundesland Baden-Württemberg so zuvorkommend reagiert.

Hätte man mir vor einem Jahr gesagt, ich würde vom Ministerpräsidenten, Ministern der Landesregierung, der Landtagspräsidentin und vielen Entscheidungsträgern regelmäßig eingeladen werden, dann hätte ich das nie geglaubt. Mit unserem Beauftragten gegen Antisemitismus der Landesregierung, Michael Blume, war ich bereits zuvor in gutem Austausch. Es ist zu begrüßen, dass die Politik in unserem Bundesland Baden-Württemberg so zuvorkommend reagiert. Zu wünschen wäre jedoch ein noch entschiedeneres Handeln zum akuten Schutz jüdischer Studierender an Bildungseinrichtungen.

»Stuttgart hält zusammen – Demokratie, Vielfalt und Freiheit verteidigen«

In diese besondere Zeit fiel auch die bis heute größte Veranstaltung der JSUW. Innerhalb von nur fünf Tagen organisierten wir im Januar unsere Kundgebung »Stuttgart hält zusammen – Demokratie, Vielfalt und Freiheit verteidigen«, bei der ich auch eine Rede hielt. Unterstützt wurde dies von den demokratischen Parteien des Landtags, der Landeshauptstadt, einem breiten Bündnis aus der Stadtgesellschaft und der Theater- und Kulturszene, dem VfB Stuttgart sowie von verschiedenen Religionsgemeinschaften. Es kamen 10.000 Menschen auf dem Stuttgarter Marktplatz zusammen. Wichtig war es zu zeigen, dass wir in unserer Gesellschaft trotz unserer Unterschiede so stark sind und dass wir Demokraten die Mehrheit bilden.

Da das jüdische Leben mir auf überregionaler Ebene wichtig ist, wurde ich im Mai 2023 zum Regionalbeauftragten der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) gewählt. Im Zuge dessen bin ich der Vorsitzende des Regionalausschusses der jüdischen Regionalverbände und der JSUD. Im April dieses Jahres organisierte ich hierfür ein Regionalseminar, bei dem Repräsentanten der zehn Mitgliedsverbände zusammenkamen und wir offiziell unser Gremium, den Regionalausschuss, gründeten. Wir wollen nachhaltig miteinander zusammenarbeiten, um das junge jüdische Leben und den Studierenden-Aktivismus in Deutschland zu stärken.

Wenn man mich fragt, wie es mit unserer jüdischen Gemeinschaft in Deutschland weitergeht oder wie ich mein eigenes Leben gestalten möchte, beruflich und persönlich, insbesondere in diesen Zeiten, dann sage ich: Es kommt darauf an.

Eine essenzielle Lehre, die ich aus den vielen Austauschmöglichkeiten und meinen Ehrenämtern ziehen durfte, ist die, dass es an uns selbst liegt, wie wir den Hindernissen begegnen, die uns das Leben oder auch Teile der Gesellschaft in den Weg stellen. Ob wir uns mit einer Situation abfinden oder diese verändern, ob wir uns für unser Dasein entschuldigen oder mit Chuzpe entgegnen und dafür eintreten, was uns zusteht. Diese Erkenntnis ist für jeden persönlich und auch für uns als Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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