ZWST

Einmalige Chance

Behindert, psychisch krank, gezeichnet durch die Schrecken der Flucht: Immer häufiger finden traumatisierte Zuwanderer Hilfe und Unterstützung bei den Migrationserstberatungsstellen (MBE) der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). »In den jüdischen Gemeinden leisten unsere Fachleute seit Jahrzehnten Traumaarbeit mit Holocaust-Überlebenden. Diese Erfahrung bringen wir jetzt verstärkt in die Migrationserstberatung ein«, sagte Julia Goldberg, MBE-Beraterin der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen, bei einem Besuch der SPD-Bundestagsabgeordneten Michelle Müntefering in der Herner Beratungsstelle. »Wir wissen, was ein Kind traumatisierter Eltern mitmacht, und was es heißt, das Grauen als Kind selbst mitzuerleben.«

Integration Das kleine MBE-Beratungsbüro liegt in einer ruhigen Nebenstraße im Herner Süden. Die bescheidenen Räumlichkeiten teilt sich die Jüdische Gemeinde mit der Ruhr-Lippe-Wohnungsgesellschaft. Mitte September – zum bundesweiten Aktionstag der MBE – hat sich prominenter Besuch angesagt: Michelle Müntefering, SPD-Bundestagsabgeordnete für Herne und Bochum, will sich über die Arbeit der ZWST vor Ort informieren. Was sie hört, beeindruckt die Sozialdemokratin.

»In Herne gibt es eine hervorragend funktionierende Integrationslandschaft«, erklärt Günter Jek, Koordinator der ZWST-Migrationsberatungsstellen in Berlin. Die Stadt verfügt über einen Integrationsscout. Alle Träger, die Beratung anbieten, sitzen reihum im Turnus in der Ausländerbehörde. Die Klienten gelangen durch Mundpropaganda, Flyer und Werbung in die Beratungsstelle. Oder sie werden von den Sachbearbeitern der Ausländerbehörde gezielt auf das Integrationsangebot hingewiesen.

»Alle Strukturen greifen ineinander. Mittlerweile erhalten wir sogar Anfragen über das Internet von Menschen, die beabsichtigen, nach Deutschland zu kommen«, berichtet Jek. Die ZWST betreibt zwei große Bildungseinrichtungen und fünf Migrationserstberatungsstellen, eine davon im nordrhein-westfälischen Herne. Die Fallzahlen sind drastisch gestiegen. Wurden 2014 in den fünf Beratungsstellen noch 240 Beratungsfälle gezählt, waren es im ersten Halbjahr 2015 bereits 636.

Aufenthaltsstatus »Die Arbeit in den Beratungsstellen richtet sich an Menschen, die einen auf Dauer ausgerichteten Aufenthaltsstatus haben«, erklärt Jek. Beraten werden alle russischsprachigen Zuwanderer. Auch Kurden finden hier regelmäßig Unterstützung. »Sie sagen: ›Wir werden auf der ganzen Welt verfolgt – genau wie die Juden. Bei euch fühlen wir uns akzeptiert und bekommen die Beratung, die wir brauchen‹«, fügt Julia Goldberg hinzu.

Die Berater in der ZWST-Einrichtung haben selbst einen Migrationshintergrund. Alexander Chraga, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen, ist vor 21 Jahren nach Deutschland gekommen. Die Caritas half ihm damals dabei, in Bochum Fuß zu fassen. Heute ist seine Gemeinde mit rund 1100 Mitgliedern die zweitgrößte in Westfalen.

Alexander Chraga ist stolz auf die Arbeit der ausgebildeten Sozialarbeiter: »Unser Vorteil ist: Wir wissen, was gebraucht wird, weil wir die Zuwanderung selbst erlebt haben. Das belegt nicht nur den enormen Erfahrungshintergrund der Beratungsstellen, sondern kann auch als gelungenes Beispiel für die Integration gelten, die unser Verband geleistet hat. Und jetzt erbringen wir über die Migrationserstberatung eine wertvolle Leistung für das Gemeinwesen.«

Religion Welche Religion der Ratsuchende hat, spielt keine Rolle. Wer Hilfe sucht, wird sie bekommen, unabhängig davon, ob er Jude ist oder nicht. Aron Schuster, stellvertretender Direktor der ZWST, betont den Wert der Migrationsberatung: »Wir stehen momentan vor der großen Herausforderung, dass Menschen nach Deutschland kommen, die erst einmal kennenlernen müssen, was es heißt, in einem toleranten, pluralen Staat zu leben. Eine jüdische Organisation, die Migrationsberatung für alle anbietet, bietet hier eine einmalige Chance.«

Ein Beispiel für viele sei der syrische Zuwanderer, der in der Ukraine Pharmazie studierte. In der Herner Beratungsstelle traf er auf eine jüdische Mitarbeiterin aus der Ukraine, und so wurden die Gespräche auf Ukrainisch geführt. Eine Selbstverständlichkeit sind Integrationskurse, bei denen in den Räumen der Jüdischen Gemeinde Menschen aus zwölf Nationen einträchtig nebeneinander lernen. Das finden alle ganz normal – nur die Arbeitsagentur Arge nicht, die fragte: »Wird das wirklich funktionieren?«

Voraussetzungen Schuster kann da nur den Kopf schütteln. »Diese Konstellation ist genau das, was sich der deutsche Staat nur wünschen kann, und die beste Voraussetzung, um Antisemitismus zu bekämpfen. Hochqualifizierte Menschen suchen gezielt unsere Beratungsstellen auf. Wenn sie gefragt werden, warum sie zur ZWST gekommen sind, dann sagen sie: Ich bin Akademiker, was interessiert mich Religion?«

»Das Instrument funktioniert. Und wir möchten es erhalten auf einem Status, auf dem es arbeiten kann«, gab der MBE-Koordinator Günter Jek Michelle Müntefering mit auf den Weg. Der Beschluss, die Integrationskurse für Flüchtlinge und Geduldete zu öffnen, sei richtig und wichtig, so Jek. Die Explosion der Teilnehmerzahlen werde in gleichem Maße die Migrationserstberatung treffen. Daher appellierte Jek an die Bundespolitik: »Denkt bei den Haushaltsberatungen an die MBE! Stockt unsere Mittel auf! Wir brauchen zusätzlich 28 Millionen Euro.«

Jom Haschoa

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