München

Ein Gebäude von Worten

Agi Mishol (l.) und Anne Birkenhauer Foto: Astrid Schmidhuber / Lyrik Kabinett

Es heißt, in Israel gebe es die größte Zahl Mobiltelefone pro Person und das größte Interesse an Lyrik weltweit. Ob Letzteres etwas mit der Luft des Landes, in dem die Psalmen entstanden, zu tun hat oder mit den Ereignissen, für die es leichter fällt, Worte in Form von Gedankensplittern, Aphorismen, Reimen, Erzählungen in wenigen Zeilen, mit Brüchen, oft auch Anspielungen auf Bibelzitate zu formulieren, sei dahingestellt.

Eine, die davon leben kann, ist Agi Mishol, die 30 Kilometer südlich von Tel Aviv und in ebensolcher Entfernung des Gazastreifens in einem Moschaw wohnt, wo sie Orangen und Persimonen anbaut. Gedichte schreiben kann sie überall, kürzlich erschien ihre erste Sammlung in deutscher Sprache unter dem Titel Gedicht für den unvollkommenen Menschen, die sie auf eine Lesereise nach München, Stuttgart und Zürich führte, begleitet von ihrer kongenialen Übersetzerin Anne Birkenhauer und bejubelt von der deutschsprachigen Presse.

In der Bibliothek des Lyrik Kabinetts in der Amalienstraße und umgeben von Buchkunst aller Art, bescherten die beiden ihrem dicht gedrängt sitzenden Publikum eine außergewöhnliche Themenvielfalt: zur Poetik, zur Familiengeschichte der international längst bekannten Autorin, zur Natur und Tierwelt; und schließlich zur politischen Lage, auch wenn die Lyrikerin sich nicht als politische Akteurin sieht. Sie sagt: »Die Wirklichkeit dringt ins Schreiben ein.« Das Schreiben passiere ihr.

Schöpferische Prozesse

Im Gespräch mit ihrer Übersetzerin Anne Birkenhauer wurden die schöpferischen Prozesse beider Frauen deutlich. Birkenhauer, lyrikerfahren durch ihre Übersetzungen von Dan Pagis, Yitzhak Laor und Jehuda Amichai, zeigt in ihrer Arbeit ein tiefes Verständnis für die hebräische Grammatik und Sprachentwicklung, sowohl inhaltlich als auch formal, seit bib­lischer Zeit.

Bei Agi Mishol beginnt es »mit zwei Wörtern, zwischen denen es funkt. Die Worte ziehen weitere an. Daraus entsteht ein Gebäude von Worten, in metaphorischer Form«. Die Dichterin erklärte in Iwrit den Unterschied zwischen Metapher und Gedicht. Metaphern dienten dazu, die Gesetzmäßigkeiten der Welt zu erforschen, im Gegensatz zur reinen Lyrik, die wie ein Metronom funktioniere. Bei ihr suche jedes Gedicht nach seiner eigenen Musik. Birkenhauer dolmetschte und las jeweils im Anschluss die deutschen Fassungen. Am Gedicht »Die schöne Höhe« erläuterte sie die Intertextualität des Hebräischen.

Alles kann zum Gedicht werden – in »Muttersprache« ihre Geburt 1946 als Kind von zwei Schoa-Überlebenden, die 1938 zusammenfanden, ihre erste Tochter verloren und Agnes (Agi) in Szilágycseh als zweite bekamen. Mit ihr wanderten sie nach Israel aus. In »Alles ist so« spielt Mishol an auf Rabbi Menachem Mendel von Kotzk und wandelt ein Zitat von ihm ab zu: »Ich habe ein gebrochenes Herz aber nicht dass du denkst (…) Denn ich bin Dichterin. Ich kann wie die Ameise in die Hölle hinabsteigen mit einem Lineal aus Stroh und wieder raufkommen mit einem Weizenkorn«. Im Dezember wird sie nach München zurückkehren, um den Horst-Bienek-Preis entgegenzunehmen.

Agi Mishol: »Gedicht für den unvollkommenen Menschen«. Gedichte. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, München 2024, 112 S., 24 €

Meinung

Unsere Antwort ist Leben!

Chanukkah ist das beharrliche Bestehen darauf, dass Mord und Terror nicht das letzte Wort haben. Ein Kommentar zum Terroranschlag von Sydney

von Jan Feldmann  18.12.2025

Hamburg

»Strong. Jewish. Here.«

Der Jugendkongress 2026 der ZWST setzt ein bewusstes Zeichen des Selbstbewusstseins und der Präsenz

von Imanuel Marcus  18.12.2025

Umbenennung

Medien: Berlin erhält Yad-Vashem-Straße

Ein neues Holocaust-Gedenken mitten im Berliner Regierungsviertel - Ein Teilabschnitt der Dorotheenstraße soll künftig den Namen der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem tragen. Die zweite Umbenennung in kurzer Zeit

 18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Sicherheit

»Keine jüdische Veranstaltung soll je abgesagt werden müssen«

Nach dem Massaker von Sydney wendet sich Zentralratspräsident Josef Schuster in einer persönlichen Botschaft an alle Juden in Deutschland: Lasst euch die Freude an Chanukka nicht nehmen!

von Josef Schuster  17.12.2025

Deutschland

»Das Licht wird nicht erlöschen«

Trotz des Terroranschlags in Sydney lassen es sich viele Juden in Deutschland nicht nehmen, öffentlich Chanukka zu feiern. Ein Stimmungsbild

von Christine Schmitt, Helmut Kuhn, Nicole Dreyfus, Ulrike Gräfin Hoensbroech  17.12.2025

Interview

Holocaust-Überlebender Weintraub wird 100: »Ich habe etwas bewirkt«

Am 1. Januar wird Leon Weintraub 100 Jahre alt. Er ist einer der letzten Überlebenden des Holocaust. Nun warnt er vor Rechtsextremismus und der AfD sowie den Folgen KI-generierter Fotos aus Konzentrationslagern

von Norbert Demuth  16.12.2025

Magdeburg

Neuer Staatsvertrag für jüdische Gemeinden in Sachsen-Anhalt

Das jüdische Leben in Sachsen-Anhalt soll bewahrt und gefördert werden. Dazu haben das Land und die jüdischen Gemeinden den Staatsvertrag von 2006 neu gefasst

 16.12.2025

Bundestag

Ramelow: Anschlag in Sydney war Mord »an uns allen«

Erstmals gab es in diesem Jahr eine Chanukka-Feier im Bundestag. Sie stand unter dem Eindruck des Anschlags auf eine Feier zum gleichen Anlass am Sonntag in Sydney

 16.12.2025