Centrum Judaicum

»Die Traumata sind der Gesamtgesellschaft wenig bewusst«

Anja Siegemund, Direktorin der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum Foto: Uwe Steinert

Frau Siegemund, was steht für den heutigen Donnerstagabend in Ihrem Terminkalender?
Daumen drücken für den Start des Films »Endlich Tacheles«. Hoffentlich finden viele Interessierte den Weg ins Kino. Ich habe ihn bereits bei der Premiere geschaut und zum ersten Mal, als ich den Link zugeschickt bekam. Ich war auf Anhieb gefesselt.

Für diesen Dokumentarstreifen hat das Centrum Judaicum eine Filmpatenschaft übernommen. Was muss man sich darunter vorstellen?
Es bedeutet, dass es uns wichtig ist, dass dieser Film und seine Inhalte bekannt werden – das wollen wir damit zum Ausdruck bringen und den Film unterstützen.

Bewerben Sie ihn? Oder ist es eine ideelle oder eine finanzielle Patenschaft?
Eine ideelle. Ferner haben wir ihn in unserem Newsletter angekündigt, denn das Thema Nachkommen, Zweite und folgende Generationen ist uns sehr wichtig. Deshalb werden wir es auch aufgreifen, wir planen eine Veranstaltung mit den Protagonisten im nächsten Jahr.

In dem Film möchte Yaar, ein 21-jähriger junger Mann aus Berlin, ein Spiel entwickeln, das auf 1940 datiert ist. Darin sollen sich Juden wehren können und Nazis nach ihrem Gewissen handeln dürfen. »Shoah. Als Gott schlief« heißt der Arbeitstitel des Spiels. In der Handlung des Films werden die Konflikte der Zweiten und Dritten Generation aufgezeigt. Sehen Sie das ähnlich?
Ich glaube, dass die beiden Protagonisten der Zweiten und Dritten Generation, Vater und Sohn, in eine Diskussion eintreten und dass beide viel überlegen und Zweifel haben. Sie zeigen sich mit großer Offenheit und Verletzlichkeit. Der Vater hat ein so schwieriges Gepäck durch seine Geschichte. In dem Film wird sehr deutlich, was es bedeutet, Sohn von Holocaust-Überlebenden zu sein und mit diesen Traumata wirklich aufzuwachsen. Der Konflikt zwischen Vater und Sohn findet eher auf der Ebene statt, dass Yaar auf irgendeine Art und Weise sagt: Du gibst mir das weiter, aber muss ich das so annehmen? Was hat die Schoa mit mir zu tun? Aber da sind auch bei ihm viele Zerrissenheiten. Kann er so einfach ausbrechen, auch aus seiner Familienbiografie?

Der junge Mann begibt sich auf Spurensuche. Er besucht seine Großmutter Rina in Israel, als Familie fahren alle in die alte Heimat nach Krakau. An wen richtet sich der Streifen?
Ich würde es eher umgekehrt sagen: An wen richtet er sich nicht? Das ist ein Film, der für viele Menschen interessant sein kann – sein sollte. Ein Punkt, weshalb wir die Patenschaft übernommen haben, ist auch, weil das Thema in unser generelles thematisches Profil passt. Wir sind als Centrum Judaicum an der Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart des Berliner jüdischen Lebens. Wir wollen auch eine Brücke sein, also das Leben der heutigen Berliner Jüdinnen und Juden für die Gesamtgesellschaft erfahrbar machen – bei diesem spezifischen Thema Verstehen und Empathie generieren. Die Schoa ist Teil des Gepäcks der Jüdinnen und Juden. Und Teil des Gepäcks der Gesamtgesellschaft, nur auf unterschiedliche Art und Weise. Daher wird der Film hoffentlich für viele interessant und wichtig sein.

Inwiefern?
Zugespitzt gesagt, sind (fast) alle Juden in Berlin und Deutschland irgendwie Nachkommen, jedenfalls tragen sie das Gepäck der Schoa mit sich. Und was dies heute noch bedeutet, dass die Schoa Weiterwirkungen hat, welche Traumata etwa bei den Filmprotagonisten da sind – das ist der Gesamtgesellschaft wenig bewusst. Ich will nicht sagen, dass die Menschen dies nicht wissen wollen, aber die Geschichte der Zweiten und Dritte Generation ist nicht wirklich präsent. Diese Geschichte zeigen die 104 Minuten.

Mit der Direktorin der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum sprach Christine Schmitt.

»Endlich Tacheles« von Andrea Schramm läuft bundesweit in den Kinos.

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