Interview

»Die Menschen sprechen direkter«

»Noch nie gab es so viel Kommunikation wie heute«: Michel Abdollahi Foto: imago images/Future Image

Interview

»Die Menschen sprechen direkter«

Michel Abdollahi über Flucht, Dialog und ein Schalom-Aleikum-Podium

von Katrin Richter  29.06.2022 14:33 Uhr


Herr Abdollahi, in einem Beitrag für »Die Zeit« haben Sie 2017 geschrieben: »Und falls Sie jetzt ganz genau wissen wollen, woher ich eigentlich komme: Sprechen Sie mich an.« Woher kommen Sie?

Ich weiß gar nicht, warum das immer so von Interesse für Leute ist, woher man kommt. Wenn man mich anguckt, dann kann man sich so ein bisschen was überlegen, wo ich herkomme, aber wir sind bisher noch nie weitergekommen.

Sie sind zu Gast beim »Open Round Table. Jüdisch-muslimisches Gespräch über Flucht« des Dialogprojekts Schalom Aleikum. Was verbinden Sie mit Flucht?
Gar nichts, ehrlich gesagt, denn ich bin nicht geflohen. Ich war fünf Jahre alt und bin mit der Iran-Air-Linienmaschine ganz normal nach Deutschland eingereist. Zum Thema Flucht habe ich überhaupt keine Assoziation.

Wie erinnern Sie sich an Ihre Ankunft?
Wir sind in Frankfurt am Main gelandet. Dort hat mich mein Onkel abgeholt, und dann sind wir – meine Großmutter, ich und mein Onkel – nach Hamburg gefahren. Mein Großvater war bereits hier, meine Tante auch, und dann war ich hier. Das war es dann auch. Soweit ich weiß, habe ich meine Eltern vermisst, habe gefragt, was mit denen ist und wann sie kommen. Aber ich war sehr nahe bei meiner Großmutter, deswegen war ich gar nicht in einem anderen Umfeld, denn ich habe sowieso die meiste Zeit bei ihr verbracht. Die Erwachsenen haben viel darüber gesprochen, was war, woher sie kommen; sie haben Erinnerungen gehabt. Aber für mich war das – soweit ich mit erinnern kann –, den Iran zu verlassen und hierherzukommen, keine große Sache.

Sind Sie auf einen Aspekt neugierig beim Round Table?
Ich freue mich, in so einem Forum eingeladen geworden zu sein. Ich schätze Lena Gorelik sehr. Es ist immer sehr augenöffnend, denn Menschen, die so unmittelbar die gleichen Erfahrungen gemacht haben und aufeinandertreffen, die lassen diesen ganzen Smalltalk weg und unterhalten sich sehr direkt. Und dieses sehr direkte Austauschen, von dem, was einem so passiert und was man auch als Lösung sieht, ist dann für die Zuschauer meistens ein bisschen schockierender, weil sie nicht damit rechnen, dass es so direkt ist.

Gibt es so etwas wie eine muslimische Perspektive auf die Flucht?
Der Islam basiert auf der Flucht. Die »Hid­schra« von Mekka nach Medina ist ja ein ganz zentraler Bestandteil des Islam. Deswegen wird sich damit auch sehr viel auseinandergesetzt. Es gibt, glaube ich, zwei verschiedene Definitionen: zum einen das, was im Westen als Flucht angesehen wird. Also: Menschen kommen aus einem anderen Land zu uns. Denen ging es dort ganz schlecht, und deswegen suchen sie jetzt Schutz. Und zum anderen gibt es die andere Seite: Ich entscheide mich dafür, den Ort, an dem ich bin, zu verlassen, um woanders ein besseres Schicksal zu haben. Ich glaube, da gibt es keine muslimische Perspektive, da ist jeder Mensch gleich. Wenn man sein Zuhause verlassen muss, weil einem Bomben auf dem Kopf fallen, ist es herzlich egal, welchen Glauben man hat. Und wenn man sich dafür entscheidet, dass man hier nicht mehr leben möchte, weil man da nicht mehr weiterkommt, ist es auch das Gleiche.

Wie kann wieder mehr Dialog in der – gefühlt zunehmend gespaltenen – Gesellschaft stattfinden?
Wenn man mit Menschen mit Migrationsgeschichte spricht, dann erzählen sie das seit 50 Jahren. Und bei der einheimischen Bevölkerung ist es gerade so angekommen, dass da irgendetwas nicht stimmt. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Gesellschaft gespalten ist. Sie war immer schon so. Einige Dinge sieht man etwas mehr, etwas weniger. Noch nie gab es so viel Dialog, wie wir jetzt haben, noch nie gab es so viel Kommunikation. Am Antisemitismus, an Islamophobie, am Umgang mit Migranten, Arbeitslosigkeit, Klassismus hat sich nicht besonders viel verändert im Laufe der Jahre.

Mit dem TV-Journalisten sprach Katrin Richter.

München

Anschlag auf jüdisches Zentrum 1970: Rechtsextremer unter Verdacht

Laut »Der Spiegel« führt die Spur zu einem inzwischen verstorbenen Deutschen aus dem kriminellen Milieu Münchens

 02.05.2025

Auszeichnung

Margot Friedländer erhält Großes Verdienstkreuz

Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer erhält das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik. Steinmeier würdigt ihr Lebenswerk als moralische Instanz

 02.05.2025

Sehen!

Die gescheiterte Rache

Als Holocaust-Überlebende das Trinkwasser in mehreren deutschen Großstädten vergiften wollten

von Ayala Goldmann  02.05.2025 Aktualisiert

Berlin

Tage im Mai

Am Wochenende beginnt mit »Youth4Peace« ein Treffen von 80 jungen Erwachsenen aus 26 Ländern. Sie wollen über Frieden und Demokratie sprechen. Auch Gali und Yuval aus Israel sind dabei

von Katrin Richter  01.05.2025

Frankfurt

Zwischen den Generationen

2020 führten Jugendliche gemeinsam mit Überlebenden der Schoa ein »Zeitzeugentheater« auf. Nathaniel Knops Dokumentarfilm »Jetzt?« zeigt dessen Entstehung und feierte nun Premiere

von Eugen El  01.05.2025

Berlin

Für mehr Sichtbarkeit

Wenzel Michalski wird Geschäftsführer des Freundeskreises Yad Vashem. Eine Begegnung

von Christine Schmitt  30.04.2025

Hanau

Das zarte Bäumchen, fest verwurzelt

Vor 20 Jahren gründete sich die jüdische Gemeinde – zum Jubiläum wurde eine neue Torarolle eingebracht

von Emil Kermann  30.04.2025

20 Jahre Holocaust-Mahnmal

Tausende Stelen zur Erinnerung - mitten in Berlin

Selfies auf Stelen, Toben in den Gängen, Risse im Beton - aber auch andächtige Stille beim Betreten des Denkmals. Regelmäßig sorgt das Holocaust-Mahnmal für Diskussionen. Das war schon so, bevor es überhaupt stand

von Niklas Hesselmann  30.04.2025

KZ-Befreiungen

Schüler schreibt über einzige Überlebende einer jüdischen Familie

Der 18-jährige Luke Schaaf schreibt ein Buch über das Schicksal einer Jüdin aus seiner Heimatregion unter dem NS-Terrorregime. Der Schüler will zeigen, »was Hass und Hetze anrichten können«

von Stefanie Walter  29.04.2025