Symbol

Zeichen der Freiheit

Loch im Läppchen: Mit Freiheit haben die meisten Ohrringe heute nichts mehr zu tun. Foto: imago

Liberté, egalité, fraternité» – drei Schlagwörter, die im Jahre 1789 von Paris aus durch ganz Europa hallten und Geschichte schrieben! Mit der Französischen Revolution veränderte die Welt ihr Gesicht und ihre Strukturen von Grund auf. Liberté, Freiheit, steht als eines der wichtigsten Bedürfnisse des Menschen ganz oben auf der Liste und ist seither als Grundrecht jedes Bürgers in viele Staatsverfassungen aufgenommen worden.

Die Tora ist die g’ttliche Lehre des Lebens und des Menschen im Ebenbilde G’ttes. Sie enthält die Anforderungen, denen er nachkommen soll, um dieser Bezeichnung gerecht zu werden. Von dieser Tora würden wir erwarten, dass sie sich für die Freiheit und gegen jegliche Form von Versklavung ausspricht. Denn nach unserem heutigen Verständnis sind Sklaverei und Menschenwürde zwei entgegengesetzte und widersprüchliche Begriffe. Doch erstaunlicherweise lesen wir in der Tora nichts vom Verbot, sondern stattdessen von den Gesetzen der Sklaverei!

Nicht nur in unserem Wochenabschnitt, sondern sogar fast unmittelbar im Anschluss an den Auszug aus Ägypten sind diese Gesetze auch im 2. Buch Moses festgehalten: «Und dies sind die Gesetze, die du ihnen vorlegen sollst: Wenn du dir einen hebräischen Sklaven erwirbst …» (21, 1–2). Ist nach Jahrhunderten der Sklaverei in Ägypten das erste Gesetz, über das wir unterrichtet werden sollen, die Frage, wie man mit einem hebräischen Sklaven verfahren soll? Hat uns die Zeit in Ägypten nicht eines Besseren belehrt?

sklavenrechte Der Kommentator Raschi schwächt die Frage ab: «Man darf den Sklaven keine beschämenden Arbeiten verrichten lassen (...) Verhalte dich zu ihm wie zu anderen Tagelöhnern» (3. Buch Moses 25, 39–40). Damit folgt Raschi dem noch viel stärkeren Wortlaut des Talmuds in Kidduschin 20a: «›Denn es ist ihm gut mit dir‹ (5. Buch Moses 15,16) – mit dir beim Essen, mit dir beim Trinken; du sollst nicht feinkörniges Brot essen und er grobkörniges, du (sollst nicht) alten (vorzüglichen) Wein trinken und er neuen, du (sollst nicht) auf weichen Kissen schlafen und er auf Stroh. Deswegen sagten sie (die Weisen): Wer sich einen hebräischen Sklaven erwirbt, dem ist, als ob er sich einen Herrn erworben hätte (weil er stets das Bessere seinem Sklaven überlassen muss)»! Diese Ausführung ist eindrücklich und zeigt auf, was die Tora in unserem Wochenabschnitt meint: «Er sei dir wie ein Tagelöhner» (3. Buch Moses 25,40). Der Sklave wird also nicht als solcher behandelt, sondern er besitzt Rechte, die die eines gewöhnlichen Tagelöhners sogar übersteigen!

EInschränkung Oft wird diese Begründung vorgeschoben, wenn die zu Beginn genannte Frage behandelt wird. Doch kann sie uns nicht vollkommen zufrieden stellen, und dies aus mehreren Gründen: Erstens gelten diese Rechte nur für einen hebräischen Sklaven, und zweitens sind auch diese Menschen trotzdem nicht frei. Sie können trotz allem eben nicht wie der Tagelöhner jederzeit ihr Arbeitsverhältnis beenden.

Die Rechte eines Ewed Kena’ani, eines nichtjüdischen Sklaven, sehen in der Tora tatsächlich anders aus. Er erlangt nicht automatisch nach einer bestimmten Zeit die Freiheit wie der hebräische Sklave (25, 44-46). Er genießt auch sonst nicht dieselben Vorrechte wie die oben beschriebenen, die für den hebräischen Sklaven gelten. Doch auch für ihn hat die Tora besondere Rechte vorgesehen: Wer ihn tötet – selbst sein eigener Herr – soll mit dem Tod bestraft werden (2. Buch Moses 21,20)! Und wenn sein Herr ihm ein Körperglied, etwa ein Auge oder einen Zahn, ausgeschlägt, muss er ihn in die Freiheit entlassen (21, 26–27).

Damit macht die Tora etwas deutlich, wofür die Menschheit noch Jahrtausende brauchen würde, um dieselbe Einsicht zu erlangen: Ein Sklave ist kein Gebrauchsgegenstand, sondern ein Mensch! Sein Leben ist dem seines Herrn gleichwertig. Sein Körper darf von seinem Herrn nicht versehrt werden, auch nicht zur Kennzeichnung des Besitzes, wie andernorts üblich. Was vor über 3.000 Jahren von der Tora für das Judentum eindeutig und klar festgelegt war, darüber bekriegten sich die Amerikaner noch im 19. Jahrhundert!

schutz Daraus ergibt sich eine besondere Erkenntnis: Ja, die Tora erlaubt Sklaverei und lässt sie zu. Nicht, weil es dem Ideal der Menschheit entspricht, sondern weil die Zivilisation vor über 3.000 Jahren und lange danach noch nicht fähig war, ohne ein System der Sklaverei zu bestehen. Gleichzeitig gewährt die Tora dem damaligen Sklaven jedoch den grundsätzlichen Schutz, der jedem zusteht: als Mensch angesehen zu werden und nicht als Ware.

Andererseits zeichnet die Tora den Weg zum Idealzustand vor: Jeder Mensch soll in Freiheit leben und seine Freiheit schätzen. Auch einen Hebräer konnte sein Weg in die Sklaverei führen, zum Beispiel als Resozialisierungsmaßnahme für Kriminelle. Doch konnte diese Sklaverei so angenehm sein, dass er sich nach den vorgeschriebenen sechs Jahren freiwillig zu weiteren Jahren der Sklaverei verpflichten wollte, «denn es geht ihm gut mit dir». Bevor diese Verlängerung aber in Kraft trat, musste sein Ohr am Türpfosten durchstochen werden.

Dazu erläutert der Talmud in Kidduschin 22b: «Worin unterscheidet sich das Ohr von den anderen Körperteilen? So sprach der Heilige, gelobt sei Sein Name: Das Ohr, das meine Stimme am Berg Sinai zur Stunde hörte, als Ich sagte: ›Denn Mir sind die Kinder Israels Knechte‹ (3. Buch Moses 25, 55) und nicht Knechte von Knechten – und dieser ging und kaufte sich selbst einen Herrn – (dieses Ohr) soll durchstochen werden.» Der Talmud fährt fort: «Worin unterscheiden sich Tür und Türpfosten von allen anderen Geräten im Haus? So sprach der Heilige, gelobt sei Sein Name: ›Die Tür und der Türpfosten, welche Zeuge waren, als Ich in Ägypten den Türrahmen übersprang und sagte: Denn Mir sind die Kinder Israels Knechte‹, und nicht Knechte von Knechten, und Ich führte sie von der Knechtschaft in die Freiheit – und dieser ging und kaufte sich selbst einen Herrn – vor ihnen (der Tür und dem Türpfosten), soll durchstochen werden.»

Damit zeigt die Tora: G’tt hat uns aus Ägypten herausgeführt und uns am Berg Sinai Seine Gesetze gegeben, damit wir ein Leben in Freiheit führen und als freie Menschen Entscheidungen treffen.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln.

Talmudisches

Lügen aus Gefälligkeit

Die Weisen der Antike diskutierten darüber, wann man von der Wahrheit abweichen darf

von Rabbiner Netanel Olhoeft  13.09.2024

Zedaka

Geben, was uns gegeben wurde

Warum man sich im Monat Elul Gedanken über die Motive der eigenen Wohltätigkeit machen sollte

von Rabbiner Raphael Evers  13.09.2024

Ki Teze

»Hüte dich vor allem Bösen«

Was die Tora über ethisch korrektes Verhalten bei Militäreinsätzen lehrt

von Yonatan Amrani  12.09.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Potsdam/Berlin

Neue Stiftung für Ausbildung von Rabbinern nimmt Arbeit auf

Zentralratspräsident Schuster: »Die neue Ausbildung öffnet wichtige internationale Horizonte und Netzwerke innerhalb des liberalen und konservativen Judentums«

von Yvonne Jennerjahn  13.09.2024 Aktualisiert

Schoftim

Das Wort braucht auch die Tat

Warum Gerechtigkeit mehr als nur leeres Gerede sein sollte

von Rabbiner Alexander Nachama  06.09.2024

Talmudisches

Bedürfnisse der Bedürftigen

Was unsere Weisen über zinslose Darlehen lehrten

von Yizhak Ahren  06.09.2024

Sanhedrin

Höher als der König

Einst entschieden 71 Gelehrte über die wichtigsten Rechtsfragen des Judentums. Jeder Versuch, dieses oberste Gericht wiederaufzubauen, führte zu heftigem Streit – und scheiterte

von Rabbiner Dovid Gernetz  06.09.2024

München

Rabbiner offerieren »Gemeindepaket«

Mit besonders auf kleine Gemeinden abgestimmten Dienstleistungen will die Europäische Rabbinerkonferenz halachische Standards aufrechterhalten

 05.09.2024