Wajechi

»Wie ein Löwe bist du«

Jakow verglich seinen Sohn mit einem jungen Löwen: »Das Zepter weicht nicht von Jehuda.« Foto: Getty Images

An diesem Schabbat lesen wir die letzten Kapitel aus dem Sefer Bereschit, dem ersten Buch Mose. Jakow liegt im Sterben. Um das Sterbebett steht die ganze Familie versammelt. Er hat seine letzten Jahre mit dem tot geglaubten und wieder gefundenen Sohn Josef verbracht. Er konnte sich im Laufe dieser Jahre in Ägypten wahrlich glücklich schätzen.

Doch als er seinen Tod nahen fühlte, konnte er keine Ruhe finden. Er wollte nicht in Ägypten begraben werden. Er wollte nicht, dass aus seinem Grab ein Ort der ägyptischen Totenverehrung wird. Er betrachtete seinen Aufenthalt in Ägypten als eine Folge der aus der Not entstandenen Zwangslage. Daher wollte er nicht, dass seine Ruhestätte Ziel von Pilgerreisen ägyptischer Götzendiener wird. Sein Wunsch war es, in der Höhle Machpela bei Chewron seine letzte Ruhe zu finden.

An jener Stätte, die einst von Awraham für die ganze Großfamilie gekauft worden war. Daher ließ Jakow seinen Sohn Josef, den Stellvertreter des Pharaos, kommen. Josef hatte genügend Macht und Vermögen, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen. Er versprach auch, diesen letzten Wunsch zu respektieren. Jakow forderte Josef auf, einen Eid darauf zu schwören.

Viele Kommentatoren meinen, dass dies kein Zeichen des Misstrauens gegen Josef war, sondern der sterbende Vater befürchtete, der Pharao könnte wegen des ägyptischen Toten- und Dämonenkults in letzter Minute die Beerdigung in Kanaan vereiteln.

Im alten Ägypten glaubte man damals, die Geister der Toten würden das Land vor Unglück bewahren. Einen Eid jedoch, das ausgesprochene Wort einem sterbenden Vater gegenüber, mussten auch die Ägypter respektieren.

Vor seinem Tod rief der Patriarch ein letztes Mal seine Kinder zusammen. Er segnete sie, einen nach dem anderen. Der Midrasch schreibt, Jakow wollte die letzten Geheimnisse, also, was am Ende der Zeiten geschehen wird, kundtun. Er wollte mitteilen, wann die Erlösung heranbrechen werde. Doch der »Ruach hakodesch«, der heilige Geist, verließ ihn, bevor er die Geheimnisse lüften konnte. Daher blieb es beim Segnen seiner Kinder.

Der Segen Jakows wird von einigen unserer Gelehrten als ein Testament des Erzvaters gedeutet

Der Segen Jakows wird von einigen unserer Gelehrten als ein Testament des Erzvaters gedeutet. Er sprach zu jedem seiner Söhne einzeln, verbarg ihre Fehler und ihr Fehlverhalten nicht, wies ihnen ihren Platz unter den anderen Geschwistern zu. Die späteren Stämme des Volkes Israel trugen die Namen der Söhne Jakows, daher galt der Segen nicht nur für eine Person, sondern für einen ganzen Stamm.

Jakow segnete sie gemäß ihren Fähigkeiten, versprach ihnen Wohlergehen in der Zukunft. Zu allen Kindern sprach er trostreiche, in die Zukunft weisende Worte. Die einzigen Ausnahmen bilden lediglich Schimon und Levi, denen er ihre Gewalttätigkeit gegenüber den Hethitern in Sichem, dem heutigen Nablus, nicht verzieh: »Schimon und Levi, die Brüder, Werkzeuge der Gewalt sind ihre Messer, in ihren Kreis komme meine Seele nicht« (1. Buch Mose 49, 5–6).

Dagegen lobt Jakow seinen Sohn Jehuda in den höchsten Tönen: »(Wie) ein junger Löwe bist du … Das Zepter weicht nicht von Jehuda« (49, 9–10). Das bedeutete, dass dieser Stamm die Regierenden des jüdischen Landes stellen wird. Dies ist mit der Herrschaft des Hauses David auch eingetreten. Sie symbolisiert bis heute die messianischen Hoffnungen und Erwartungen. Für das jüdische Volk bedeutet die Legitimität des Messias, dass er aus dieser Dynastie stammen wird.

Sichtbare Symbole dieses jüdischen Messianismus sind in den Synagogen – trotz des Bildverbots – die Darstellungen des Löwen an den unterschiedlichsten Stellen. Darüber hinaus symbolisiert der Löwe Jehudas in Staatswappen moderner Staaten, wie zum Beispiel im Wappen Großbritanniens, bis heute das Gefühl der Zugehörigkeit zum biblischen Volk.

Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.

INHALT
Der Wochenabschnitt Wajechi erzählt davon, wie Jakow die Enkel Efrajim und Menasche segnet. Seine Söhne versammeln sich um sein Sterbebett, und er wendet sich an jeden mit letzten Segensworten. Jakow stirbt und wird seinem Wunsch entsprechend in der Höhle Machpela in Hebron beigesetzt. Josef verspricht seinen Brüdern, nun für sie zu sorgen. Später dann, bevor auch Josef stirbt, erinnert er seine Brüder daran, dass der Ewige sie in das versprochene Land zurückführen wird.
1. Buch Mose 47,28 – 50,26

Re'eh

Freude, die verbindet

Die Tora zeigt am Beispiel der Feiertage, wie die Gemeinsamkeit gestärkt werden kann

von Vyacheslav Dobrovych  22.08.2025

Elul

Der erste Ton des Schofars

Zwischen Alltag und Heiligkeit: Der letzte Monat vor dem Neujahr lädt uns ein, das Wunderhafte im Gewöhnlichen zu entdecken

von Rabbiner Raphael Evers  22.08.2025

Talmudisches

Positiv auf andere schauen

Was unsere Weisen über den Schutz vor bösem Gerede und die Kraft positiver Gedanken lehren

von Diana Kaplan  21.08.2025

Naturphänomene

Entzauberung des Gewitters

Blitz und Donnergrollen wurden lange als Zorn der Götter gedeutet. Doch die Tora beendete diesen Mythos

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  21.08.2025

Fulda

Vor 80 Jahren - Schuldbekenntnis der Bischöfe nach dem Krieg

Sie stand im Zenit ihres Ansehens. Nach Kriegsende galt die katholische Kirche in Deutschland als moralische Macht. Vor 80 Jahren formulierten die Bischöfe ein Schuldbekenntnis, das Raum für Interpretationen ließ

von Christoph Arens  18.08.2025

Ekew

Nach dem Essen

Wie uns das Tischgebet lehrt, bewusster und hoffnungsvoller durchs Leben zu gehen

von Avi Frenkel  15.08.2025

Talmudisches

Granatapfel

Was unsere Weisen über das Sinnbild der Fülle lehren

von Chajm Guski  15.08.2025

Geschichte

Quellen des Humanismus

Wie das Gʼttesbild der jüdischen Mystik die Renaissance beeinflusste

von Vyacheslav Dobrovych  14.08.2025

Wa'etchanan

Mit ganzem Herzen

Was wir von Mosche über das Gebet erfahren können

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  08.08.2025