Beziehung

Werden unsere Gebete erhört?

Durch unsere Hinwendung zum Ewigen nähern wir uns ihm an – und schöpfen Hoffnung und Zuversicht

von Daniel Neumann  21.07.2022 11:00 Uhr

Ein Paar besucht die Kotel in Jerusalem. Foto: TR

Durch unsere Hinwendung zum Ewigen nähern wir uns ihm an – und schöpfen Hoffnung und Zuversicht

von Daniel Neumann  21.07.2022 11:00 Uhr

Kennen Sie den? Ein amerikanischer Reporter fliegt nach Israel, um einen Juden zu interviewen, der seit 60 Jahren jeden Tag an der Kotel in Jerusalem betet. Als er den alten Juden schließlich trifft, fragt er ihn fasziniert, wie es sich anfühlt, seit so vielen Jahrzehnten täglich an der Klagemauer zu beten, woraufhin der Jude antwortet: »Wie es sich anfühlt? Als würde ich gegen eine Wand reden!«

Nun ist das zwar nur ein Witz. Aber mit den Witzen ist es wie mit den Lügen. Gelegentlich steckt ein Quäntchen Wahrheit drin. Das behauptet zumindest Konfuzius. Jedenfalls deutet dieser Witz auf die schwierige Frage hin, ob G’tt unsere Gebete erhört. Und sie im besten Fall auch beantwortet.

Im biblischen Judentum scheint die Sache klar. Und ein Blick in die Tora reicht aus, um alle Unklarheiten zu beseitigen. G’tt war da, war gegenwärtig, sprach und agierte unmittelbar.

ANTENNEN Nun ist heute nicht damals. Die Zeiten haben sich geändert. Und die Umstände auch. Nur wenige werden heutzutage zweifelsfrei bezeugen, dass sie eine himmlische Antwort auf ihre Gebete erhalten haben. Was aber heißt das konkret? Antwortet G’tt nicht mehr? Oder fehlen uns heute die Antennen, um die Signale zu empfangen? Oder können wir sie nicht mehr deuten? Oder ist es wie mit dem Juden, der seinen Rabbiner fragt, warum der Ewige ihm nicht antworte, obwohl er doch ständig und innig beten würde? Woraufhin sein Rabbiner meint: »Er antwortet dir jedes Mal! Aber die Antwort lautet ›Nein‹.«

Vielleicht liegt das Problem aber auch woanders. Denn indem wir die Frage als solche aufwerfen, gehen wir wie selbstverständlich davon aus, dass Gebete immer auch mit konkreten Wünschen verbunden sind, die erfüllt werden wollen. Man möchte etwas von G’tt. Wohlstand, Gesundheit, Schutz, Rettung, einen Lottogewinn oder was auch immer. Das ist im Grunde auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich heißt es gemeinhin ja auch Gebet. Man betet oder bittet um etwas. Gebet, Beten, Bitten. Das eine folgt aus dem anderen.

Es geht darum, sich selbst in Augenschein zu nehmen und zu prüfen.

Im Judentum sieht die Sache allerdings anders aus! Dort hat das hebräische Wort, das gemeinhin für das Beten verwendet wird, überhaupt nichts mit Beten, Bitten oder Sonstigem zu tun! Das Wort, das hier gebraucht wird, ist »lehitpalel« – und es bedeutet: sich selbst zu prüfen.
Es geht bei dem hebräischen Wort für das klassische Beten also gar nicht darum, einen anderen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Sondern es geht darum, sich selbst in Augenschein zu nehmen und zu prüfen. Das heißt: Es geht beim jüdischen Gebet weniger darum, G’tt zu ändern. Sondern es geht vielmehr darum, sich im Lichte des Ewigen selbst zu ändern.

Das Risiko für Missverständnisse und Fehlvorstellungen ist dabei zugegebenermaßen enorm. Denn beim Beten ähneln sich nicht nur die Begrifflichkeiten, die in den meisten Sprachen als Beschreibung verwendet werden, sondern auch die jeweiligen Ausdrucksformen. Das heißt: Wir verwenden die gleichen Begriffe und meinen Unterschiedliches. Oder: Wir handeln scheinbar gleich, haben allerdings Unterschiedliches im Sinn. Und das verwirrt Juden wie Nichtjuden gleichermaßen.

DILEMMA Mit einem vergleichbaren Dilemma sah sich das biblische Judentum schon bei den Opferungen konfrontiert. Denn obwohl der sichtbare Ausdruck bei Juden und Nichtjuden ähnlich war, konnten die zugrunde liegenden Konzepte und Ideen kaum unterschiedlicher sein.
Will heißen: Nahezu alle antiken Kulturen kannten Opferriten. Nahezu alle Völker, Religionen und Kulte opferten ihren Göttern. Sie brachten Speisen, Tiere und sogar Menschen dar. Und hofften, die Götter dadurch milde zu stimmen. Hofften auf Regen, eine gute Ernte, Erfolg im Krieg oder was auch immer.

Es ging um eine primitive Form der Bestechung: »Ihr kriegt was Leckeres zu essen, ein paar Jungfrauen oder auch unsere Kinder, und dafür verschont ihr uns, helft uns oder lasst es uns gut ergehen.« Der jüdische Opferkult hingegen bediente sich zwar vordergründig ähnlicher Handlungen, verband damit allerdings gänzlich andere Erwartungen.
Es war neuer Wein in alten Schläuchen. Denn einmal abgesehen davon, dass das Menschenopfer seit jeher vollkommen tabu war, ging das Judentum niemals davon aus, mit den Opfern das Wohlwollen G’ttes erkaufen zu können.

Was nicht heißt, dass es nicht auch Juden gab, die das geglaubt haben oder ihre Opfer in dieser Absicht darbrachten. Nur tut das nichts zur Sache, weil es lediglich zeigt, dass Menschen eben Menschen sind. Beeinflussbar von der Mehrheitsgesellschaft und durch die Vorstellungen und Bräuche anderer Kulturen. Und es zeigt, dass sie nicht immer so handeln, wie sie es eigentlich sollten oder wie es ihre eigene Religion vorsieht.

Die Opfer im Tempel wollten G’tt nicht zu Wohlverhalten bewegen.

Jedenfalls war das Opfer, kurz gesagt, ein Weg, dem Ewigen näher zu kommen. Eine Beziehung zu schaffen. Was auch hier durch den hebräischen Begriff sonnenklar wird. Opfer heißt auf Hebräisch »Korban«. Und das kommt von dem Wort, welches »nahe« bedeutet.

wohlverhalten Ähnlich wie auch schon bei dem Gebet ging es bei den Opfern also gar nicht darum, den Ewigen zu einem bestimmten Wohlverhalten zu bewegen. Es ging auch nicht darum, eine Änderung seiner Entschlüsse herbeizuführen oder darum, ihn zu bestechen. Was im Übrigen wohl auch wenig erfolgversprechend wäre. Sondern es ging darum, ihm näher zu kommen. Eine Beziehung zu vertiefen, indem eine intensive Selbstbeschau vorgenommen oder etwas von sich oder seinem Besitz hingegeben wurde.

Bei diesen Parallelen dürfte es kaum verwundern, dass die Rabbiner das Gebet später als Ersatz für die Opfer bestimmt haben. Im Jahre 70 durchlitt das Judentum eine seiner tiefsten und existenzbedrohendsten Krisen. Der Tempel in Jerusalem war von den Römern zerstört worden. Die Opfer, die gemeinsamen Feste, die Rituale, die Priesterdienste, die zentralen Zusammenkünfte waren mit einem Mal unmöglich geworden. Und das zuverlässig schlagende Herz des Judentums war brutal herausgerissen worden.

Entgegen aller Wahrscheinlichkeit war das allerdings nicht das Ende, sondern der Beginn einer kreativen Transformation. Eines Neubeginns, den die Rabbiner mit Einfallsreichtum, Flexibilität und Mut orchestriert haben. Und in dessen Zug sie festlegten, dass die Opfer in der bisherigen Form zwar unmöglich geworden waren. Dass diese aber in einer anderen, veränderten und doch wohl bekannten Form dargebracht werden könnten. In Form von Worten, die unsere Lippen formen. In Form von Gebeten, die wir sprechen. Als Dienst des Herzens.

WILLE Der italienische Rabbiner Leone da Modena erklärte das jüdische Verständnis des Gebetes einmal so: Stellen Sie sich einen Mann in einem Boot vor, der sich selbst ans Ufer zieht. Wenn wir es nicht besser wüssten und die Gesetze der Physik außer Acht lassen würden, dann könnten wir durchaus glauben, dass der Mann versucht, das Ufer zum Boot zu ziehen.
Tatsächlich ist das Ufer natürlich unbeweglich, während es der Mann in dem Boot ist, der sich auf das Ufer zubewegt.

Ähnlich ergehe es uns im Gebet. Wir glauben manchmal, dass wir G’tt im Gebet an unseren Willen heranführen. In Wirklichkeit allerdings bewirkt das Gebet genau das Gegenteil: Wir werden dadurch näher an G’ttes Willen herangeführt.

Sprich: Durch das Gebet nähern wir uns dem Ewigen an. Unterziehen uns selbst einer kritischen Betrachtung. Prüfen unsere Erwartungen und Wünsche ebenso wie unser Verhalten. Untersuchen den Deckungsgrad von »soll« und »ist«. Versuchen, in seinem Licht zu wachsen. Uns zu erheben. Uns zu verändern. Und im besten Fall beenden wir das Gebet als bessere Menschen, als wir es begonnen haben. Mit mehr Mut, Zuversicht und Hoffnung. Ist die ursprüngliche Frage damit umfassend beantwortet?

Nein. Nicht ganz. Aber wir haben uns der Antwort zumindest angenähert. Und manchmal ist die Annäherung mehr, als wir hätten erwarten können.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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