Pinchas

Wenn der Mörder zweimal zusticht

Am einem drastischen Beispiel zeigt die Tora, dass die politischen Ränder eingebunden werden müssen

von Beni Frenkel  21.07.2022 10:59 Uhr

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Am einem drastischen Beispiel zeigt die Tora, dass die politischen Ränder eingebunden werden müssen

von Beni Frenkel  21.07.2022 10:59 Uhr

Der Wochenabschnitt Pinchas lässt den Leser sprachlos zurück. Bereits in der vergangenen Woche haben wir Bekanntschaft mit Pinchas gemacht. Ganz am Ende des Abschnitts Balak tritt er in ein Zelt ein und ermordet dort einen anderen Israeliten, der sich gerade mit einer Midianiterin vergnügt – und tötet auch die Frau.

Pinchas war ein Pechvogel. Dem Enkel von Aharon wurde das Priesteramt versagt. Grund war seine frühe Geburt. Das Gesetz, wonach sämtliche Nachkommen von Aharon als Priester (Kohanim) eingesetzt werden, galt in erster Linie den Söhnen Aharons und deren zukünftigen Kindern. Enkelkinder von Aharon, die damals bereits auf der Welt waren, wurden von der Priesterkaste ausgeschlossen.

tötungsdelikt Wir haben es bei Pinchas also vermutlich mit einem frustrierten jungen Mann zu tun, der sich mit einem brutalen Tötungsdelikt einen Platz in der jüdischen Geschichte sicherte.

Selten findet man in der Tora eine Persönlichkeit, die von Gott fast angehimmelt wird. Unser Wochenabschnitt beginnt ge­radezu mit einer Lobeshymne: »Pinchas (…) hat meinen Grimm von den Kindern Israels abgewendet. (…) Ich gebe ihm durch meinen Bund mit ihm Frieden (…).«

Durch die Ermordung erhält Pinchas sogar rückwirkend die Priesterwürde. Das gilt auch für seine Kinder. Der mittelalterliche Kommentator Ibn Esra, fast immer im Schatten des großen Exegeten Raschi, fügt hinzu, dass sogar die Kohanim Gedolim, also die Leiter der Priesterkaste, aus dem Hause Pinchas stammten.

»good guy« Dies stellt uns vor die Frage: Ein religiöser Eiferer, der zwei Menschen umbringt, wird als Dank zum Priester ernannt? Ein Mann, der ohne Mosches Einwilligung einen jüdischen Fürsten hinterrücks mit einem Speer durchbohrt, erhält den Segen Gottes und wird Namensträger eines Wochenabschnitts? Diese Ehre wird sonst keinem anderen zuteil außer Korach; aber der war kein »good guy«.

»Der Weg, den man sich auswählt, wird einem gewährt.«

Gott ist groß, Gott ist mächtig. Aber den Willen des Menschen kann auch er nicht kontrollieren. Was der Mensch will, welchen Weg er einschlagen möchte, liegt außerhalb der göttlichen Kontrolle. Der Talmud (Makkot 10b) drückt dies prägnant aus: »Der Weg, den man sich auswählt, wird einem gewährt.«

Was für das Individuum gilt, trifft auch auf das Volk zu. Die Freiheiten, die sich das Wüstenvolk herausnahm, sind beeindruckend: Über Mosche wird gelästert, über Gott wird geflucht, und wenn etwas nicht genehm ist, droht gleich eine Revolution.

anarchie Als Mosche auf dem Berg Sinai die Tora in Empfang nahm, drohte unten am Fuß des Berges eine totale Anarchie. Das ganze Volk unterlag einem Zählfehler und ging davon aus, dass Mosche einen Tag zu lang oben verweilte und wahrscheinlich bereits tot war. Die Israeliten schmolzen das Gold ihrer Schmuckwaren zu einer Kuh und beteten es an.

Kurz vor ihrer Übersiedlung ins verheißene Land sandten sie Kundschafter aus. Die brachten große Früchte mit und erzählten Märchen von den dortigen Bewohnern. Wieder brach Chaos aus.

Wer die Tora aus diesem Blickwinkel liest, greift sich an den Kopf: Das soll das auserwählte Volk sein? Warum hat Mosche seine Brüder und Schwestern so schlecht im Griff?

Die Antwort ist wenig schmeichelhaft, aber ehrlich. Die Juden sind ein Volk mit unbändigem Charakter. Niemand kann sie zähmen, selbst Gott nicht. Als einzige Maßnahmen, das Wüstenvolk wieder an die Kandare zu nehmen, tauchen immer wieder Seuchen oder übernatürliche Phänomene auf. So auch beim Götzenkult, dem das jüdische Volk damals verfallen war. 24.000 Menschen starben beim Baal-Peor-Kult. Erst nachdem Pinchas den Israeliten und die Midianiterin getötet hatte, hörte die Seuche auf.

WAFFE Das erklärt aber noch immer nicht, weshalb Gott Pinchas in die Priesterwürde aufnahm und ihm seine Hochachtung zollte. Pinchas ist wahrscheinlich der erste jüdische Extremist, der in der Tora beschrieben wird. Ohne lange zu fackeln, greift er zur Waffe, weil er die Ehre Gottes in Gefahr sieht.

Oder ist es anders? Ich begebe mich möglicherweise auf dünnes Eis, wenn ich postuliere: Pinchas’ Ernennung zum Priester war ein politischer Akt. Die damaligen Zerrkräfte waren immens. Der Baal-Peor-Kult fraß sich durch alle Schichten des jüdischen Volkes.

Ein junger Mann aus bestem Hause, der aber trotzdem nicht richtig dazugehörte, erdolcht einen der damals wichtigsten Führer. Wäre Gott nicht eingeschritten, das jüdische Volk wäre nicht wegen der Seuche umgekommen, sondern wegen der Abspaltung eines frustrierten Pinchas von den herrschenden Fürsten.

Mosche, der größte Prophet, verstand während der Wüstenwanderung häufig das Momentum nicht. Auch bei Pinchas schritt er nicht ein. Die Sektenbildung rund um den Baal-Peor-Kult konnte er nicht unterbinden.

Was hat die Juden während ihrer Geschichte stark gemacht?

Wir erleben in unserer Parascha keinen Glanzpunkt der jüdischen Geschichte. Wir finden aber eine Wegleitung für künftige Konflikte innerhalb jüdischer Gemeinden. Nicht die Ausgrenzung der politischen Ränder ist die Folgerung aus jahrtausendealter jüdischer Geschichte, sondern die Einbettung, die Suche nach einem Konsens – das hat die Juden während ihrer Geschichte stark gemacht.

Entscheidung Es war eine geniale Entscheidung von Gott, den Eiferer Pinchas zum Priester zu ernennen. Die Kohanim stehen zwischen Mensch und Gott und dienen als Mittler. Ein Zelot im Heiligtum Gottes: Das ist einerseits jüdische Ironie, andererseits eine bewährte Strategie. Schulleiter wissen: Wer Raufbolde als Konfliktlotsen einsetzt, erlebt überraschende Erfolge.

Kommen wir zurück zu Pinchas und zu den Problemen der Gegenwart. Seit rund 50 Jahren findet eine Atomisierung der jüdischen Gemeinden statt. Kaum erreicht eine Gemeinde eine gewisse Größe, zerfällt sie in kleinere. Beide Lager bezeichnen sich als »Extremisten«, als »Ultraorthodoxe«, als »Ultra-Liberale«. Wer anders denkt, gilt als Extremist.

Das sollte uns zu denken geben. Wenn sogar Gott Realpolitik betreibt und Pinchas um des Friedens willen in den Schoß der Kohanim zurückholt, sollten wir uns daran nicht ein Beispiel nehmen?

Der Autor ist Journalist in Zürich und hat an Jeschiwot in Gateshead und Manchester studiert.

INHALT
Der Wochenabschnitt berichtet von dem gleichnamigen Priester, der durch seinen Einsatz den Zorn Gottes abwandte. Dafür wird er mit dem »Bund des ewigen Priestertums« belohnt. Die kriegsfähigen Männer werden gezählt, und das Land Israel wird unter den Stämmen aufgeteilt. Mosches Leben nähert sich dem Ende. Deshalb wird Jehoschua zu seinem Nachfolger bestimmt. Am Schluss der Parascha stehen Opfervorschriften.
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