Talmudisches

Wenn der Lehrling mit der Frau des Meisters

Wie Ehebruch zur Zerstörung des Tempels führte

von Yizhak Ahren  06.05.2020 15:28 Uhr

Schon der Prophet Micha stellte fest: »Sie üben Gewalt an dem Mann und an seinem Haus« (2,2). Foto: Getty Images / istock

Wie Ehebruch zur Zerstörung des Tempels führte

von Yizhak Ahren  06.05.2020 15:28 Uhr

Der Talmud (Joma 9b) fragt: Was waren die wahren Gründe für die Zerstörung des von König Salomon erbauten Heiligtums in Jerusalem? Die Antwort, die sich auf Bibelverse stützt, lautet: »Wegen dreier Sünden, die da begangen wurden: Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen.«

Es folgt dann die Frage, weshalb der Zweite Tempel zerstört wurde. Antwort: »Weil grundloser Hass herrschte.«

Der Talmud zieht den Schluss: »Dies lehrt dich, dass grundloser Hass die Kardinalsünden Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen aufwiegt.«

Untat In einem anderen Traktat (Gittin 58a) finden wir eine Schilderung jener Untat, die seinerzeit Gottes Urteil über die Tempelzerstörung besiegelt hat. Dieser schrecklichen Geschichte wird ein Vers aus dem Buch des Propheten Micha als Motto vorangestellt: »Sie üben Gewalt an dem Mann und an seinem Haus, an dem Menschen und an seinem Besitz« (2,2).

Wie begann das tragische Geschehen? »Einst warf jemand sein Auge auf die Ehefrau seines Meisters; es war der Lehrling eines Tischlers.« Haim Weiss, Literaturwissenschaftler an der Ben-Gurion-Universität, meint, der Ausdruck »warf sein Auge« deute an, dass der Lehrling die Frau seines Meisters durch magische Mittel an sich binden wollte.

Diese Interpretation hat mich nicht überzeugt; es genügt meines Erachtens, anzunehmen, dass der Lehrling das im Dekalog festgelegte Verbot »Du sollst nicht Gelüste tragen nach der Frau deines Nächsten« (2. Buch Mose 20,14 und 5. Buch Mose 5,18) übertreten hat. Wir werden bald sehen, wie der Übeltäter sein Ziel durch List und Lüge erreicht hat; Magie war nicht im Spiel.

Darlehen »Als der Meister einmal Geld borgen musste, sprach der Lehrling zu ihm: ›Schick deine Frau zu mir, ich will ihr das Darlehen geben.‹« Wir erfahren nicht, warum der Tischler in Geldnot geraten war, noch wird mitgeteilt, warum er sich ausgerechnet von seinem Lehrling aushelfen lassen wollte. Die Beziehungen zwischen Meister und Lehrling waren offenbar gut.

»Der Tischler schickte seine Frau zum Lehrling, und dieser verbrachte mit ihr drei Tage.« Aus diesem Satz geht nicht hervor, was in diesen drei Tagen geschah; aber wir können uns vorstellen, dass es nicht sehr sittlich zugegangen ist.

»Da die Frau nicht nach Hause zurückgekehrt war, machte sich der Tischler auf, ging zum Lehrling und fragte ihn: ›Wo ist meine Frau, die ich zu dir geschickt habe?‹ Dieser erwiderte: ›Ich entließ sie alsbald, habe jedoch gehört, dass unterwegs junge Männer sich mit ihr ergötzten.‹« Der Lehrling lügt dreist und erfindet das Gerücht von einer Gruppenvergewaltigung.

»Da sprach der ratlose Tischler zu seinem Lehrling: ›Was mache ich nun?‹ Dieser meinte: ›Wenn du auf meinen Rat hören willst, so lass dich von ihr scheiden!‹ Jener entgegnete: ›Sie hat eine hohe Morgengabe.‹ Dazu sagte der Lehrling: ›Ich will dir Geld leihen, dann kannst du ihr die Morgengabe auszahlen.‹ Hierauf ließ sich der Tischler von der Frau scheiden, und der Lehrling heiratete sie.«

Scheidung Der verlogene Lehrling hat also erreicht, was er sich wünschte. Wie soll man das Verhalten der Frau beurteilen? Etliche Gelehrte meinen, am tragischen Ehebruch sei die Frau mitschuldig.

Mit der Scheidung und der Hochzeit ist die traurige Geschichte noch nicht zu Ende: »Als die Frist abgelaufen war und der Tischler nicht bezahlen konnte, sprach der Lehrling zu ihm: ›Komm und leiste bei mir Arbeit für deine Schuld.‹

Wenn der Mann und seine Frau beim Essen und Trinken saßen, stand der Tischler und schenkte ihnen ein. Die Tränen rollten ihm aus den Augen und fielen in die Becher.« Wortlos, aber sehr eindrucksvoll beklagte der Meister seine Verluste.

Der Talmud merkt lakonisch an: »In jener Stunde ist das Urteil besiegelt worden.« Mit anderen Worten: Die Tempelzerstörung ist als eine göttliche Strafe zu betrachten für das mutwillige Zerstören einer jüdischen Ehe und für die Verkehrung der gesellschaftlichen Ordnung.

Wajischlach

Wahre Brüder, wahre Feinde?

Die Begegnung zwischen Jakow und Esaw war harmonisch und belastet zugleich

von Yonatan Amrani  13.12.2024

Talmudisches

Licht

Was unsere Weisen über Sonne, Mond und die Tora lehren

von Chajm Guski  13.12.2024

Hildesheimer Vortrag

Das Beste im Menschen sehen

Der Direktor der Yeshiva University, Rabbiner Ari Berman, zeigt einen Ausweg aus dem Frontendenken unserer Zeit

von Mascha Malburg  13.12.2024

Debatte

Rabbiner für Liberalisierung von Abtreibungsregelungen

Das liberale Judentum blickt anders auf das ungeborene Leben als etwa die katholische Kirche: Im jüdischen Religionsgesetz gelte der Fötus bis zur Geburt nicht als eigenständige Person, erklären liberale Rabbiner

von Leticia Witte  11.12.2024

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Palästinensertuch

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Frankfurt

30 Jahre Egalitärer Minjan: Das Modell hat sich bewährt

Die liberale Synagogengemeinschaft lud zu einem Festakt ins Gemeindezentrum

von Eugen El  09.12.2024

Wajeze

»Hüte dich, darüber zu sprechen«

Die Tora lehrt, dass man ein Gericht anerkennen muss und nach dem Urteil nicht diskutieren sollte

von Chajm Guski  06.12.2024

Talmudisches

Die Tora als Elixier

Birgt die Tora Fallen, damit sich erweisen kann, wer zur wahren Interpretation würdig ist?

von Vyacheslav Dobrovych  06.12.2024

Hildesheimer Vortrag 2024

Für gemeinsame Werte einstehen

Der Präsident der Yeshiva University, Ari Berman, betonte die gemeinsamen Werte der jüdischen und nichtjüdischen Gemeinschaft

von Detlef David Kauschke  05.12.2024