Waera

Was bin ich dankbar!

Letzten Endes geht es im Leben darum, anderen Menschen etwas Gutes zu tun – genau das macht den Unterschied. Foto: Getty Images/iStockphoto

Bei der zweiten der zehn Plagen in Ägypten dreht sich alles um Frösche, die aus dem Nil springen sollen. Um das zu ermöglichen, schlug Mosche aber nicht persönlich mit seinem Stab auf das Wasser. Vielmehr hatte Gʼtt ihm erklärt, dass sein Bruder Aharon diese Aufgabe übernehmen müsse. Warum aber er und nicht Mosche?

Nur die letzten sieben Plagen wurden von Mosche selbst ausgelöst, warum nicht auch die ersten drei? Die Weisen sagen, der Nil sei für ihn ein Zufluchtsort gewesen, weil er dort als Säugling in einem Schilfkorb vor den Soldaten des Pharaos versteckt wurde, die alle männlichen jüdischen Kinder ertränken sollten.

Ähnliches ist auch bei der Plage mit den Läusen zu beobachten. Mosche solle der Erde dankbar sein, weil diese den Ägypter verbarg, den er erschlagen hatte, weil jener einen jüdischen Sklaven zu Tode prügelte. Deshalb wurde Mosche von Gʼtt angewiesen, sie ebenfalls nicht zu schlagen.

Mosche war zur Zeit der Plagen bereits 80 Jahre alt

Heißt das nun, dass Wasser und Erde Gefühle haben? Können beide etwa erkennen, wer auf sie einschlägt? Nein, Gʼtt wollte nur nicht, dass auf sie geschlagen wird, weil beide in einem Moment von Mosches Lebens »für ihn da« waren. Zudem war er zur Zeit der Plagen bereits 80 Jahre alt. Beide Geschichten hatten sich aber ereignet, als er ein Säugling beziehungsweise junger Mann war. Trotzdem sollte er auch Jahre später immer noch darauf achten, dass er die Dinge, die ihm einst geholfen hatten, nicht schlug.

Das sagt uns eine Menge über die Bedeutung von Dankbarkeit. Wenn wir schon dem Wasser und der Erde dankbar sein sollen, um wie viel mehr müssen wir dann Menschen zu Dank verpflichtet sein, die für uns da waren? Außer Mosche gibt es noch eine weitere Person, die dem Nil zu Dank verpflichtet war: der Pharao selbst. Die Tora berichtet, dass Jakow ihm Jahre zuvor einen besonderen Segen erteilt hatte. Jedes Mal, wenn er sich dem Nil näherte, stieg dieser bis zu seinen Beinen auf, so als würde er ihn begrüßen, und floss dann in die Bewässerungskanäle.

Beide standen also in der Schuld des Flusses. Aber wie unterschiedlich waren ihre Reaktionen! In der Tora steht, der Pharao habe jeden Morgen in den Fluss uriniert. So »belohnte« der Pharao den Nil für seine »Freundlichkeit«. Mosche dagegen wollte selbst acht Jahrzehnte später seinen Stab nicht über den Fluss erheben.

Wie geht man nun mit Menschen um, die in der Vergangenheit freundlich zu einem gewesen sind? So wie der Pharao mit dem Nil? Oder nutzen wir ihre Gutmütigkeit aus? Da ist die Geschichte des weisen Philanthropen, der jemandem ein Darlehen gab, um dessen Existenz zu retten. Der Empfänger hatte Tränen in den Augen. Aber als sein Wohltäter ihm auch einige kleine Kieselsteine überreichte, fragte er: »Wofür ist das?« – »Eines Tages könntest du dich gezwungen sehen, auf mich wütend zu werden und mich zu hassen, wie es manchmal gegenüber Menschen üblich ist, die einem geholfen haben«, lautete die Antwort. »Wirf an diesem Tag bitte diese kleinen Steine auf mich und keine großen.«

So etwas geschieht nicht selten. Man hat jemandem aus der Patsche geholfen, aus echter Not sogar, und trotzdem stellt sich plötzlich das Gefühl ein, von dieser Person nicht gemocht zu werden, oder man spürt Misstrauen. Sie geht auf Distanz, verletzt einen sogar, und man sucht nach den Gründen. Warum revanchiert sich diese Person für eine gute Tat, indem sie einem Steine entgegenschleudert? Die Antwort ist recht einfach. Sie lautet, dass manche Menschen eben nicht damit umgehen können, dass sie anderen etwas schulden. Es macht sie verletzlich, bei jemandem in der Schuld zu stehen. Indem sie die Ursachen dafür bei der Person suchen, die ihnen geholfen hatte, rechtfertigen sie ihr Handeln vor sich selbst.

Mosche erinnerte sich daran, dass der Nil ihn umarmt hatte, als sein Leben in Gefahr war

Mosche lehrte uns einen anderen Weg. Selbst nach acht Jahrzehnten hatte er dieses gute Gefühl, als er an den Nil kam, und erinnerte sich – bewusst oder unbewusst – daran, dass dieses Wasser ihn einst umarmt hatte, als sein Leben in Gefahr war. Deshalb konnte er seine Hand auch nicht dagegen erheben.

Doch diese Episode mit Mosche und dem Nil hat noch eine weitere Bedeutungsebene. Der Fluss hatte Mosche damals keinen besonderen Gefallen getan, er hat lediglich den Korb getragen, in dem er lag. Es ist ein physikalisches Gesetz, dass etwas, das leichter ist als Wasser, darauf schwimmt. Der Nil tat damit einfach das, was er seit Anbeginn der Zeit schon immer tat.

Trotzdem fühlte sich Mosche selbst in einer solchen Situation motiviert, sich zu bedanken. Das widerlegt eine weit verbreitete Vorstellung. Manche Menschen sagen: »Warum sollte ich mich überhaupt bedanken? Warum muss ich Dankbarkeit ausdrücken? Er oder sie hätte es doch sowieso tun müssen; er oder sie hat sich nicht wirklich für mich eingesetzt!« Die Antwort darauf ist recht simpel: Egal, warum er oder sie etwas für einen getan hat – Tatsache ist: Man hat von dieser Person profitiert. Wenn jemand etwas von einem anderen erhält – unabhängig davon, ob es für ihn lästig war oder nicht –, hat der Begünstigte die Pflicht, diesen Gefallen anzuerkennen und Dankbarkeit zu zeigen. Der Beweis dafür ist der Nil. Der Fluss tat nur, was Wasser von Natur aus tut, und trotzdem war Mosche ihm ewig dankbar.

Unser Wochenabschnitt zeigt die biblische Perspektive auf das Thema Dankbarkeit

Wir sehen hier die biblische Perspektive auf das Thema Dankbarkeit. Jemand tut mir womöglich etwas Gutes, und ich könnte sagen: Von dem, was diese Person getan hat, profitiere ich. Aber seien wir ganz ehrlich – eigentlich hat er es für sich getan und nicht für mich, seine Hintergedanken sind so offensichtlich, warum also sollte ich ihm Dankbarkeit zeigen, wenn er es nicht wirklich für mich getan hat?

Manche Kinder entwickeln eine ähnliche Einstellung gegenüber ihren Eltern. Weshalb sollte man Mutter und Vater respektieren und ehren, geschweige denn, ihnen dankbar sein? Weil sie mich auf die Welt gebracht und mir ein Zuhause gegeben haben? Oder etwas zu essen, Kleidung oder Bildungsmöglichkeiten? Na und? Letztendlich haben sie es doch für sich selbst getan. Sie wollten Kinder haben, um ihr eigenes Glück zu vervollständigen oder Erfüllung zu finden. Eltern fühlen sich ja von Natur aus für ihre Kinder verantwortlich und lieben sie. Und indem sie sich um ihre Kinder kümmern, erweisen sie sich selbst einen Dienst. Das hat nichts mit mir zu tun, sondern nur mit ihnen.

Doch darum geht es nicht. Taten sind wichtiger als Motive. Wenn jemand etwas für mich tut, auch wenn er es ohnehin tun musste und sich nicht extra für mich eingesetzt hat – wie im Fall des Nil, der Mosche beschützte – oder sogar, wenn er oder sie es aus persönlichem Interesse getan hat, schulde ich ihm oder ihr Dankbarkeit.

Denn letzten Endes geht es darum, anderen Menschen etwas Gutes zu tun. Manche mögen innerlich besonders edel veranlagt sein. Alles, was sie machen, ist raffiniert und rein – aber bis sie damit anfangen, ist man bereits verhungert. Andere wiederum sind vielleicht nicht ganz so perfekt, aber die Menschen profitieren von ihnen, sie helfen ihnen, und genau das macht den Unterschied. Deshalb sagen wir ihnen: Danke!

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

inhalt
Der Wochenabschnitt Waera erzählt, wie die Kinder Israels Mosche und Aharon kein Gehör schenkten, obwohl G’ttes Name ihnen von Mosche offenbart worden war. Mosche verwandelt vor den Augen des Pharaos seinen Stab in ein Krokodil und fordert den Herrscher auf, die Kinder Israels ziehen zu lassen. Der Pharao aber bleibt hart, und so kommen die ersten sieben Plagen über Ägypten: Blut, Frösche, Ungeziefer, wilde Tiere, Viehseuche, Aussatz und Hagelschlag. Doch der Pharao bleibt hart und lässt die Israeliten nicht ziehen.
2. Buch Mose 6,2 – 9,35

Talmudisches

Lügen aus Gefälligkeit

Die Weisen der Antike diskutierten darüber, wann man von der Wahrheit abweichen darf

von Rabbiner Netanel Olhoeft  13.09.2024

Zedaka

Geben, was uns gegeben wurde

Warum man sich im Monat Elul Gedanken über die Motive der eigenen Wohltätigkeit machen sollte

von Rabbiner Raphael Evers  13.09.2024

Ki Teze

»Hüte dich vor allem Bösen«

Was die Tora über ethisch korrektes Verhalten bei Militäreinsätzen lehrt

von Yonatan Amrani  12.09.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Potsdam/Berlin

Neue Stiftung für Ausbildung von Rabbinern nimmt Arbeit auf

Zentralratspräsident Schuster: »Die neue Ausbildung öffnet wichtige internationale Horizonte und Netzwerke innerhalb des liberalen und konservativen Judentums«

von Yvonne Jennerjahn  13.09.2024 Aktualisiert

Schoftim

Das Wort braucht auch die Tat

Warum Gerechtigkeit mehr als nur leeres Gerede sein sollte

von Rabbiner Alexander Nachama  06.09.2024

Talmudisches

Bedürfnisse der Bedürftigen

Was unsere Weisen über zinslose Darlehen lehrten

von Yizhak Ahren  06.09.2024

Sanhedrin

Höher als der König

Einst entschieden 71 Gelehrte über die wichtigsten Rechtsfragen des Judentums. Jeder Versuch, dieses oberste Gericht wiederaufzubauen, führte zu heftigem Streit – und scheiterte

von Rabbiner Dovid Gernetz  06.09.2024

München

Rabbiner offerieren »Gemeindepaket«

Mit besonders auf kleine Gemeinden abgestimmten Dienstleistungen will die Europäische Rabbinerkonferenz halachische Standards aufrechterhalten

 05.09.2024