»Ad Lo Jada«

Vollrausch als Gebot?

Trunkenheit
»Nach vier Gläsern wälzt man sich im Schlamm wie ein Schwein.« Foto: Getty Images

An Purim scheint »Komatrinken« fast obligatorisch zu sein, doch den Rest des Jahres gilt im Judentum das Gebot der Mäßigung und ein striktes Verbot des übermäßigen Alkoholkonsums. Die Priester im Tempel von Jerusalem durften keinen Dienst tun, wenn sie »angeschickert« (betrunken) waren. Der Grund dafür war, dass die Freude am Leben von innen kommen sollte und nicht aus der Flasche.

In meiner Jugend gab es kein »Angeschickert-Sein«. Bevor ich 18 Jahre alt wurde, hatte ich noch nie jemanden gesehen, der betrunken war: »Juden trinken nicht.« Inzwischen hat sich das ein wenig geändert, aber das Judentum warnt vor zu viel hochprozentigem Alkohol: »Nach einem Glas wird man fügsam und freundlich, nach zwei Gläsern fühlt man sich wie ein Löwe und prahlt mit allem, was man zu können glaubt, nach drei Gläsern tanzt man herum wie ein Affe, und nach vier Gläsern wälzt man sich im Schlamm wie ein Schwein« (Midrasch Agada 9,21).

Wunder Der Talmud (Megilla 7b) zeigt, dass das Trinken unheilvolle Folgen haben kann: »Rabba und Rabbi Zeïra haben sich zusammen betrunken. Rabba schlug Rabbi Zeïra zu Tode. Rabba betete für seinen toten Freund, und Rabbi Zeïra erwachte wieder zum Leben. Im nächsten Jahr, zu Purim, lud Rabba seinen Kollegen erneut ein. Doch Rabbi Zeïra lehnte ab: »Nicht jeden Tag geschieht ein Wunder.« Die desaströsen Folgen von Trunkenheit sind auch aus der Wissenschaft bekannt.

Das Judentum ist voll von Paradoxen. Das mag für manche Menschen schwierig sein, aber für erfinderische Köpfe ist es eine Quelle für immer neue Erkenntnisse.

Doch wie ist es möglich, dass derselbe Talmud uns auffordert, so lange zu trinken, bis wir den Unterschied zwischen Haman, der uns vollständig ausrotten wollte, und Mordechai, der uns vor diesem Völkermord bewahrt hat, nicht mehr erkennen können?

Das Judentum ist voll von Paradoxen. Das mag für manche Menschen schwierig sein, aber für erfinderische Köpfe ist es eine Quelle für immer neue Erkenntnisse. Achten Sie darauf, was genau in der Megilla, der Geschichte von Esther, passiert. Viele Wunder in der Esther-Schriftrolle ereigneten sich gerade wegen des Trinkens. Königin Waschti wurde abgesetzt, weil sie den unzüchtigen Wünschen ihres betrunkenen Königsgemahls nicht nachkommen wollte (Esther 1,10). Waschti sollte nackt, nur mit ihrer Krone auf dem Kopf, vor allen Gästen auf dem »Catwalk« laufen, um ihre Schönheit zu zeigen. Sie weigerte sich und »verschwand«. Manche sagen, sie wurde hingerichtet.

Da es keine Königin mehr gab, mussten alle Frauen am größten Schönheitswettbewerb der Geschichte teilnehmen. Die Siegerin Esther wurde bei einem Festmahl als Königin eingesetzt, bei dem reichlich Alkohol floss. Haman kam bei einem Trinkgelage zu Fall, zu dem er und König Achaschwerosch von Esther eingeladen worden waren; deshalb sollen wir die Wunder mit Wein feiern. Aber alles in Maßen.

Trunkenheit Trinken bedeutet nicht, sich zu betrinken: »Trunkenheit ist völlig verboten; es gibt nichts Schlimmeres als Trunkenheit, weil sie zu allen Arten von Vergehen und Fehlverhalten führt«, sagt das mittelalterliche Kol Bo. Wir sollten nur ein wenig mehr als üblich trinken, damit wir fröhlich werden. Nach Maimonides bedeutet die Verpflichtung, sich so lange zu betrinken, bis man nicht mehr zwischen Haman und Mordechai unterscheiden kann, »trinken, bis man einschläft«.

Andere sehen die Grenze zur Trunkenheit in dem gleichen Zahlenwert der hebräischen Worte »Verflucht sei Haman!« und »Gesegnet sei Mordechai!«. Beide Sätze haben den Zahlenwert 502. Man ist ausreichend betrunken, wenn man nicht mehr in der Lage ist, diese Zahlenwerte zu berechnen.

Je länger der Wein im Keller steht, desto besser ist seine Qualität. Das Gleiche gilt für Wissen und Weisheit.

Das Irdische und das Himmlische, das Materielle und das Spirituelle, sind oft miteinander verbunden. Wein ist das Symbol für Weisheit. Je länger der Wein im Keller steht, desto besser ist seine Qualität. Das Gleiche gilt für Wissen und Weisheit: Je weniger Einfluss der Körper und die körperlichen Leidenschaften haben, und je mehr Zeit der Wein hat zu reifen (zum Beispiel im frühen Alter), desto mehr Kraft gewinnt die Chochma – die Weisheit.

»Körperliche« Feste Wein hat den Zahlenwert 70; dies ist auch der Zahlenwert des Begriffs »Sod« (Geheimnis). Unsere Weisen sagen: »Wenn der Wein hereinkommt, kommt das Geheimnis heraus« (Eruwin 65b). Wein in Maßen setzt unsere spirituelle g’ttliche Seele frei, unser Geheimnis, unsere größte menschliche Kraft.

Aus diesem Grund muss im Judentum bei allen »körperlichen« Festen Wein getrunken werden. Die Brit Mila bringt ein neues Kind in den Bund Awrahams, bei einer Chuppa wird ein neues jüdisches Haus gebaut. Der Schabbat erhebt die Schöpfung. Und am Sederabend erheben wir uns aus der körperlichen Unterdrückung in die spirituelle Freiheit. Wein ist dabei hilfreich.

Aus diesem Grund wird Purim manchmal mit Jom Kippur, dem Versöhnungstag, verglichen, an dem wir fasten. Jom Kippurim kann auch anders gelesen werden. Dann heißt es »Jom Kepurim« oder: Der Große Versöhnungstag ist wie Purim. An Purim erheben wir das Materielle, indem wir es mit einer tiefen religiösen Absicht genießen. Dies ist mindestens so gut wie das Fasten an Jom Kippur, um spirituell zu wachsen.

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