Tu Bischwat

Unsere Wurzeln im Himmel

Das Neujahrsfest der Bäume erinnert daran, dass auch wir Menschen in stürmischen Zeiten Halt brauchen

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.01.2024 09:11 Uhr

Foto: Getty Images

Das Neujahrsfest der Bäume erinnert daran, dass auch wir Menschen in stürmischen Zeiten Halt brauchen

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.01.2024 09:11 Uhr

Avraham Fried ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Sänger des sogenannten Orthodox-Pop und konkurriert mit Mordechai Ben David um den Titel des »King of Jewish Music«. Der US-Amerikaner, der 1959 geboren wurde, gehört der Chabad-Bewegung an und hat seit seinem Debüt 1981 über 30 Musikalben und zahlreiche Singles in Englisch, Hebräisch und sogar Russisch veröffentlicht.

Sein erstes Lied auf Hebräisch heißt »Aleh Katan«, verfasst von dem israelischen Sänger und Songschreiber Ishay Lapidot, und kam im Jahr 2002, inmitten der Zweiten Intifada, heraus. Fried beabsichtigte, damit das jüdische Volk in Israel zu unterstützen, das regelmäßig von schrecklichen Terroranschlägen erschüttert wurde. Frei übersetzt heißt es dort: »Nimm meine Erfahrung mit dir auf die Reise / Unterschätze sie nicht, vielleicht ist das alles, was ich habe / Denn es gibt gute Tage, (wenn) alles blüht / und es gibt schwere Zeiten, (wenn) alles vergeht.«

Im Lied geht es darum, dass der alte und weise Baum dem jungen und eigensinnigen Blatt offenbart, dass es stürmische Tage geben wird und dass es aus seiner reichen Lebenserfahrung lernen soll, wie man diese schweren Zeiten überstehen kann: »Halte dich fest, mein kleines Blatt / Denn nicht immer ist es draußen klar / ein Sturm und eine kalte Böe können dich erfassen / Denk daran und stärke dich, ich stehe dir bei / Halte dich fest, mein kleines Blatt.«

Die Botschaft von Fried (und von Ishay Lapidot) ist, dass man sich in stürmischen Zeiten, wenn sich Angst und Ungewissheit verbreiten, an seinen Wurzeln festhalten muss, um den Sturm zu überstehen. Doch was sind unsere Wurzeln?

Wir müssen uns an unseren Wurzeln festhalten.

Den metaphorischen Vergleich eines Baumes mit einem Menschen macht schon die Tora im 5. Buch Mose 20,19: »Denn der Mensch ist der Baum des Feldes …« Der mittelalterliche Rabbi Jehuda Löw von Prag, bekannt unter dem Akronym Maharal, erklärt, dass der Mensch, genauso wie ein Baum, mit einer Quelle verbunden ist, aus der er seine Lebensenergie schöpft. Jedoch befindet sich diese Quelle, im Gegensatz zu einem Baum, oben, also in der spirituellen Welt. Der Maharal beschreibt den Menschen als einen »umgekehrten Baum«.

Wir Menschen sind zwar physische Lebewesen in einer materiellen Welt, aber was uns in Wahrheit am Leben erhält, ist unsere spirituelle Seele. Durch sie sind wir mit Gʼtt, der Quelle des Lebens, verbunden.

In der Routine des Alltags könnte man meinen, dass der Mensch ein rein physisches Wesen ist, für das genauso wie bei einem Tier oder einer Pflanze vorgesehen ist, um sein Überleben zu kämpfen und sich um die Fortführung seiner Art zu sorgen, und mancher lebt in der Tat einzig und allein für diesen Zweck.

Der Mensch ist wie ein umgekehrter Baum.

Doch im Judentum wird die gesamte Schöpfung in vier Kategorien unterteilt: Domem (hebräisch für das Schweigende, unbelebte Objekte wie Steine), Zomeach (das Wachsende, Pflanzen und Bäume), Chai (das Lebende, Tiere) und Medaber (der Sprechende, Menschen).

Während Steine keine spirituellen Seelen haben, verfügen Pflanzen und Tiere über gewisse spirituelle Kräfte beziehungsweise niedrige Formen von Seelen, welche sie beleben.

Im Midrasch (Bereschit Rabba, Kapitel 10) steht, dass jeder Grashalm über einen eigenen Engel verfügt. Der Mensch steht an der Spitze dieser Hierarchie und ist der Einzige, dessen Seele ein Teil von Gʼtt ist und der im Abbild von Gʼtt erschaffen wurde. Es gibt zahlreiche Erklärungen, was mit dem Abbild Gʼttes gemeint ist, mit dem gemeinsamen Nenner, dass der Mensch mit einer Mission auf dieser Welt ist.

Unsere Seele gleicht den Wurzeln eines Baumes, die Wasser und notwendige Nährstoffe aus dem Erdboden aufnehmen, um uns am Leben zu halten.

Aber die Wurzeln haben auch eine weitere Funktion: Bei einem Sturm sind sie es, die dem Baum Rückhalt geben und ihn davor bewahren, aus der Erde gerissen zu werden. Auch unsere Seele hat diese beiden Funktionen. In schwierigen Zeiten drohen die Sturmböen der Angst und Verzweiflung, den Menschen aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihm seine Lebensfreude zu rauben. Israel führt gegenwärtig einen Krieg gegen Feinde, die öffentlich verkünden, den Staat vernichten zu wollen.

Über 100 unschuldige Männer, Frauen und Kinder werden seit mehr als 100 Tagen unter fürchterlichen Umständen in Gaza als Geiseln festgehalten. Auch außerhalb von Israel, ob in den Elite-Unis in den USA oder auf den Straßen in Deutschland, überall ist ein drastischer Anstieg von Antisemitismus spürbar.

Im Midrasch steht, dass jeder Grashalm über einen eigenen Engel verfügt.

In so einer Situation, wo das jüdische Volk von allen Seiten bedroht wird, können wir uns nur auf Gʼtt verlassen. Unsere Verbindung zu Gʼtt und unsere Emuna (Glauben in Gʼtt) geben uns die Möglichkeit, sich den zahlreichen Herausforderungen zu stellen und die schlimmsten Tragödien zu überstehen.

Tu Bischwat, das Fest der Bäume, erinnert uns daran, dass wir Menschen ebenfalls »umgekehrte Bäume« sind und in schweren Zeiten an den Wurzeln des Glaubens festhalten müssen, um zu verhindern, in die Verzweiflung gerissen zu werden.

Das Lied Avraham Frieds endet mit diesem positiven Gedanken: »Denk immer daran: Das Glas ist halb voll / Und wenn die Sonne über dem Meer untergeht / Keine Sorge, morgen wird sie wieder hell leuchten.«

Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Gemeinde Kahal Adass Jisroel und Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin.

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