Todesstrafe

Tiefere Wahrheiten

Die Tora enthält scheinbar mehrere Verse mit einer Aufforderung zur Todesstrafe. Jedoch kann man die Bibel nicht immer wörtlich interpretieren. Foto: Getty Images/iStockphoto

Kürzlich hat in Israel das Gesetz zur Todesstrafe für Terrorattacken auf israelische Bürger die erste parlamentarische Hürde genommen. Danach soll künftig, so der Gesetzentwurf, demjenigen oder derjenigen die Todesstrafe drohen, der oder die »absichtlich oder aus Gleichgültigkeit den Tod eines israelischen Bürgers verursacht, wenn die Tat aus einem rassistischen Motiv oder aus Hass auf eine bestimmte Zielgruppe (…) und mit dem Ziel, dem Staat Israel und der Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Heimatland zu schaden, ausgeführt wird«.

Der Gesetzentwurf stammt von Vertretern der aktuellen israelischen Regierung, darunter auch religiösen Politikern. Doch ist die Position der jüdischen Religion zur Todesstrafe eindeutig?

Eine wörtliche Interpretation der Tora würde dies nahelegen. Die Tora spricht sich in vielen Fällen für die Todesstrafe aus. Allein das 2. Buch Mose enthält nach dem Empfang der Zehn Gebote scheinbar mehrere Verse mit einer Aufforderung zur Todesstrafe: »Wer einen Menschen schlägt, dass er stirbt, der soll des Todes sterben« (2. Buch Mose 21,12); »Wer Vater oder Mutter schlägt, der soll des Todes sterben« (ebenda 21,15) oder auch »Leben um Leben, Auge um Auge (…) Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde« (ebenda 21, 23–25).

VORAUSSETZUNGEN Schon zu Beginn der Tora wird gesagt: »Wer das Blut eines Menschen vergießt, dessen Blut soll durch den Menschen vergossen werden« (1. Buch Mose 9,6). Doch ein Blick in den Talmud relativiert die vielen Verse. In den Traktaten Makkot und Sanhedrin werden die verschiedenen Voraussetzungen für ein Aussprechen der Todesstrafe geschildert.

Um die Todesstrafe auszusprechen, muss der Verbrecher oder die Verbrecherin laut Talmud zuvor von zwei erwachsenen jüdischen Männern mit guten Kenntnissen der religiösen Gesetze gewarnt worden sein. Die Zeugen müssen sich während der Tat gut sehen können und dürfen keinerlei Defizite in ihrer Artikulation oder in ihrem Hörvermögen haben. Die Zeugen dürfen weder miteinander noch mit dem Täter verwandt sein.

Die Warnung muss genau vor der Sünde erfolgen und muss beinhalten, dass es sich hierbei um einen Akt handelt, der mit dem Tode bestraft wird. Außerdem muss der Täter oder die Täterin innerhalb kürzester Zeit antworten, dass er oder sie mit dem Gesetz vertraut ist und dennoch sündigen möchte.

Mit anderen Worten: Die Todesstrafe wird an so viele Bedingungen geknüpft, dass es praktisch unmöglich ist, diese zu vollstrecken. Auch im Fall des berühmten, weiter oben zitierten Verses »Auge um Auge« beteuert der Talmud, dass es sich hierbei nur um eine Metapher für die Zahlung von Schmerzensgeld handelt (siehe Bava Kamma 83b).

Mehrere Oberrabbiner lehnten die Todesstrafe für Terroristen in Israel ab.

Im Judentum wird angenommen, dass die schriftliche Tora (Fünf Bücher Mose sowie Propheten und Schriften) und mündliche Tora (Talmud) eine gemeinsame g’ttliche Offenbarung darstellen. Wie kann es also sein, dass die Botschaft der Schrift und die Botschaft der Überlieferung so stark auseinandergehen? Um die Antwort auf diese Frage zu finden, lohnt es sich, die allererste Androhung der Todesstrafe in der Tora anzuschauen.

SCHLANGE G’tt warnt Adam und Chawa: »Wer vom Baum der Erkenntnis isst, wird sterben.« Daraufhin sagt die Schlange: »Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern G’tt weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie G’tt und wissen, was gut und böse ist« (1. Buch Mose 3, 4–5). Das Resultat: Der Mensch erkennt Gut und Böse (1. Buch Mose 3,22). Adam wird 930 Jahre alt und zeugt eine Vielzahl an Nachkommen (1. Buch Mose 5, 3–5).

Schon in der ersten Geschichte der Tora sieht es so aus, dass G’ttes Wort nicht eintrifft, während das Wort der Schlange sehr wohl eintrifft. Es sieht aus, als würde G’tt sein Wort nicht einhalten, während die Schlange (als Verkörperung des Bösen) die Wahrheit spricht!

Doch wir wissen durch unsere Propheten: »Nicht ein Mensch ist G’tt, dass er lügt, noch der Sohn eines Menschen, dass er bereut« (1. Buch Samuel 26). G’tt spricht: »Ich werde meinen Bund nicht entweihen und nicht ändern, was hervorgegangen ist aus meinen Lippen« (Psalm 89, 32–35). G’tt und die Lüge sind aus der Sicht des Judentums nicht miteinander vereinbar.

Und tatsächlich erklären die Rabbiner bezüglich Adam und Chawa, dass der Beginn der Sterblichkeit aus einer philosophischen Perspektive »Sterben« genannt wird. Jeder Moment, der vergeht, ohne wiederzukehren, und unaufhaltsam auf den Tod zusteuert, ist im Kontrast zur Unsterblichkeit des Garten Eden der Tod. Erst wenn man einen Schritt zurückgeht, wenn man abwartet, so wird klar, dass G’tt die Wahrheit spricht und nicht die Schlange.

Das Judentum lehrt uns, dass man zwischen der augenscheinlichen und tieferen Wahrheit unterscheiden muss. Wer beim Lesen der Tora auf der oberflächlichen Ebene bleibt, wird den Text ins Absurde ziehen. Die Tora fordert die tiefere Interaktion, und dies macht sich bereits ab der ersten Geschichte erkennbar.

Der Talmud lehrt, dass die Tora ein Elixier des Lebens ist, doch nur für diejenigen, die sich ihrer würdig erweisen. Gleichzeitig ist die Tora ein Gift, eine tödliche Kraft, für solche Menschen, die nicht ihre wahre Intention erkennen (Joma 72b).

Kein Vers kann ohne die Überlieferung verstanden werden, man muss wissen, wann man den richtigen Punkt oder das richtige Komma setzt, ansonsten verliert man den Zugang zum Text. Doch woher wissen wir, welcher Vers wörtlich und welcher Vers metaphorisch gemeint ist? Woher wissen wir, was die eigentliche Meinung der Tora ist? Und noch viel wichtiger: Woher wissen wir, was das praktische jüdische Gesetz, die Halacha, ist?

Im Judentum haben die halachischen Autoritäten, die sogenannten Poskim, das letzte Wort. Gelehrte, welche sich durch ihre Gelehrsamkeit und Bescheidenheit die Liebe und die Autorität des Volkes erarbeitet haben.

Sie gründen ihre halachische Entscheidung, den sogenannten Psak Halacha, auf den Versen der Tora, den Versen der Propheten und der Schrift, den dazugehörigen Überlieferungen und Diskussionen des Talmuds, den Entscheidungen früherer Poskim, teilweise auch auf den mystischen Offenbarungen der Kabbala und hoffentlich immer auf der von Rabbi Akiwa formulierten großen Regel der Tora: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«

Außerdem steht jeder Psak Halacha im Kontext der konkreten Situation eines Individuums, einer Gesellschaft, einer Familie. Immer geleitet von der Frage: Was ist G’ttes Wille in dieser konkreten Situation?

POSKIM Wenn wir uns also fragen, was die Meinung des Judentums zur Todesstrafe ist, müssen wir uns anschauen, was die Poskim zu dieser Frage sagen. Die durch einen Staat vollstreckte Todesstrafe wird von den frühen Poskim nicht abgelehnt.

So schreibt der Meiri (1249–1325), dass, auch wenn ein religiöses Gericht niemanden (aufgrund religiöser Übertretungen) zum Tode verurteilen kann, ein Staat das Recht hat, zum Schutze des Allgemeinwohls Verbrecher zum Tode zu verurteilen, und dies im Einklang mit dem jüdischen Gesetz sei. Der Raschba (1235–1310) und andere frühe halachische Autoritäten scheinen ihm da zuzustimmen.

Rabbiner Mosche Feinstein (1895–1986), eine der bekannten halachischen Autoritäten des 20. Jahrhunderts, sprach sich in einem Responsum für die Todesstrafe im Staat New York aus. Diese solle zum Schutz der Allgemeinheit vor besonders brutalen Mördern vollstreckt werden.

Auf der anderen Seite haben sich die frühen Oberrabbiner des Staates Israel gegen die Todesstrafe in Israel ausgesprochen. Auch Rabbiner Aaron Soloveitchik (1917–2001) sprach sich aus religiösen Gründen gegen die Todesstrafe in den USA aus.

OVADJA JOSEF In dem konkreten Fall der Todesstrafe für Terroristen im Staat Israel liegt eine Audioaufnahme vor, in der sich der wohl größte Posek der sefardischen Welt im späten 20. Jahrhundert und frühen 21. Jahrhundert, Rabbiner Ovadja Josef (1920–2013), eindeutig gegen solch ein Gesetz ausspricht (es gab schon in der Vergangenheit ähnliche Gesetzentwürfe). Sein Sohn Rabbiner Yitzchak Yosef ist ebenfalls gegen die Todesstrafe für Terroristen.

Die rabbinischen Gegenstimmen bezweifeln dabei nicht die Autorität des Staates, eine Todesstrafe zum Schutz des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu verhängen, sondern sagen, dass die Todesstrafe im konkret diskutierten Fall zu negativeren Konsequenzen für die Gesellschaft führen würde als ihr Einführung.

Der Autor ist Sozialarbeiter und hat am Rabbinerseminar zu Berlin studiert.

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