Bereschit

Teil des Ganzen

»Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde« (1. Buch Moses 1,1): So beginnt die Toralesung. Foto: Thinkstock

Wieder einmal beginnen wir die jährliche Lesung der Tora mit Paraschat Bereschit. Gerade erst haben wir im letzten Wochenabschnitt der Tora von Mosche Abschied genommen. Er starb, nachdem er 40 Jahre lang das Volk Israel angeführt hatte. Und um zu zeigen, dass die Lektüre der Tora – und damit ihr Lernen – nie aufhört, haben wir zu Simchat Tora nicht nur dieses Ende, sondern auch gleich den Anfang der Tora mitgelesen.

Trotz all dieser Kontinuität ist es aber gut, wenn wir an dieser Stelle einmal innehalten und uns fragen, warum die Tora gerade mit Bereschit beginnt. Warum mit der Schöpfung, mit Adam und Eva, dem Paradies und der Vertreibung, mit Kain und Abel, kurz: warum mit diesem Vorspann aus der Geschichte aller Menschen, bevor die Tora dann mit der dritten Parascha, mit Lech Lecha bei unserer eigenen jüdischen Familien- und Volksgeschichte anlangt, die uns dann 50 Wochen lang beschäftigen wird?

kabbala Die Mystiker antworten hier ganz überraschend, indem sie die Frage umdrehen: Warum beginnt die Tora denn erst mit der Erschaffung der Welt, statt schon von den göttlichen Geheimnissen der Himmel und Engel zu berichten, die der Erschaffung unserer Welt vorangehen? Diese Lücke hat dann die jüdische Mystik von der Gnosis über die Hechalot bis hin zur Kabbala fleißig aufgefüllt. Die Mehrheit des jüdischen Volkes hat aber unsere Aufgabe weiter darin gesehen, in unserer Welt Verantwortung zu übernehmen und nicht über andere Welten zu spekulieren.

Die wohl bekannteste Antwort auf unsere Frage stammt von Raschi (1040–1105). Angesichts der jüdischen Aufgabe, in dieser Welt Verantwortung zu übernehmen, kommt es ja bei der Lektüre der Tora in erster Linie auf die Mizwot an, darauf, was Gott von uns fordert.

Raschi sagt, die erste Mizwa erscheine erst in Paraschat Bo, im zwölften Kapitel des 2. Buch Moses, und handele vom Neumond. Warum dann der Beginn mit der Schöpfung? »Wenn die Völker der Welt zu Israel sprechen sollten: ›Ihr seid Räuber, denn ihr habt die Länder der sieben Nationen eingenommen‹, so antworten sie ihnen: ›Die ganze Erde gehört dem Heiligen, gelobt sei Er. Er hat sie erschaffen und dem gegeben, der gerecht in Seinen Augen ist (Jirmejahu 27,5); nach Seinem Willen hat Er sie jenen gegeben und nach Seinem Willen sie ihnen genommen und uns gegeben (Jalkut zu 2. Buch Moses 12,2)‹.«

ansprüche Auf den ersten Blick erscheint Raschis Auslegung weit hergeholt. Warum sollte die Tora mit einem Text beginnen, der nur dazu dient, später einmal Immobilienansprüche zu begründen? Zumal zu Raschis Zeit diese Ansprüche schon seit 1000 Jahren bloße Theorie waren und es fast so lange auch noch bleiben sollten. Auf den zweiten Blick aber erkennt man, dass Raschi hier, wie so oft, mit einer kurzen Aussage eine viel komplexere Sachlage beschreibt.

Zum einen handelt die Tora, wenn man sich ihren Plot vergegenwärtigt, genauso vom Land Israel wie vom jüdischen Volk. Im 1. Buch Moses 12 heißt es in Lech Lecha, dass Awraham sich aufmachen solle in das Land, das Gott ihm zeigen werde; und im 5. Buch Moses 34 schließlich steht das Volk direkt vor dem Einzug ins Land. Wenn die Verbindung von Volk und Land das durchgehende Thema der Tora ist, so liegt es tatsächlich nahe, mit Raschi auch den Vorspann der Geschichte Israels auf diese Hauptlinie zu beziehen.

Zum anderen beweist ja erst die Schöpfung der Welt durch Gott sein Recht, die Dinge auf der Erde zu ordnen. Sonst wäre es ja nur seine Macht, seine Fähigkeit also, andere Götter und Mächte zu besiegen, die ihn befähigt, die Dinge zu ordnen, ihm so aber auch nur das Recht des Stärkeren und nicht das Recht des Schöpfers gäbe.

Ein drittes ist zu betonen: Wenn Raschi die erste Mizwa im 2. Buch Moses 12 sieht, dann hat er einige Mizwot übersprungen, wie etwa die Beschneidung, die Awraham und alle seine Nachfahren bis heute betrifft und schon im 1. Buch Moses 17 angeordnet wird. Wie ist dies zu erklären?

Für Raschi ist offenkundig nicht die Awraham-Tradition entscheidend, die Abstammung von den Erzeltern, sondern die Gabe der Tora am Sinai. Erst durch den Exodus, durch Jeziat Mizrajim, sind wir das jüdische Volk. Das ganze erste Buch der Tora gehört also zur Vorgeschichte und nicht nur die ersten beiden Paraschiot.

chassidismus Eine andere Antwort auf die Frage, warum die Tora mit der Schöpfung beginnt, finden wir in der chassidischen Tradition. Sie stimmt mit Raschi darin überein, dass erst in der Geschichte vom Auszug aus Ägypten der Kern der Tora, die Mizwot, beginnen. Sie unterscheidet sich aber von Raschi darin, dass nicht ein apologetisches Argument nach außen (auf die Frage: »Warum beansprucht ihr dieses Land?«, sondern ein inneres Argument entscheidend ist.

Im Talmud (Awoda Sara 25a) wird von einer Diskussion darüber berichtet, was wohl mit dem im ersten Kapitel des Zweiten Samuelbuchs erwähnten Sefer Hajaschar, dem »Buch des Aufrechten«, gemeint sein könnte. Eine der Antworten ist, dies sei das Buch von Awraham, Jitzchak und Jakow, also das erste Buch der Tora, Bereschit. Im 5. Buch Moses 6,18 heißt es dann vom ganzen jüdischen Volk: Und tue das Richtige (hajaschar) und das Gute.

So lernen wir aus der Familiengeschichte von Awraham und Sara sowie von ihren Nachkommen, wie Menschen sich benehmen sollen – und auch recht ausführlich, wie sie sich nicht benehmen sollten! Der Midrasch Wajikra Rabba 9,3 bringt dieses Verhältnis auf den Punkt: »derech eretz kadma latora« – der Brauch des Landes (also das gute Benehmen) geht der Tora voraus.

Missverständniss Um die Mizwot, die üblicherweise mit 613 gezählten Gebote, erfüllen zu können, braucht es eine vorhergehende Schulung darin, wie Menschen sich im Allgemeinen benehmen sollten. Die jüdische Tradition ist sich bewusst, dass der Wortlaut der Gebote nicht vor Missverständnissen schützt. So betont der Mystiker Chaim Vital: Die Middot (Charaktereigenschaften) sind kein Teil der 613 Mizwot, sondern sind ihre Vorbedingung. Wer keinen »derech eretz« gelernt hat, der kann auch keine Tora lernen.

Die Schöpfungsgeschichte vor dem Beginn der besonderen jüdischen Geschichte mit Awraham und Sara sowie diese jüdische Familiengeschichte der ersten Generationen vor der Geschichte des Volkes mit dem Exodus und der Übergabe der Tora auf dem Sinai erinnern uns auch heute daran, dass die besondere jüdische Geschichte Teil der allgemeinen Geschichte aller Menschen ist und dass wir unsere besondere jüdische Aufgabe, die Mizwot zu erfüllen, dann am besten leben, wenn wir sie immer wieder ins Verhältnis setzen zu den allgemein menschlichen Werten und Bräuchen.

Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Inhalt
Mit dem Wochenabschnitt Bereschit fängt ein neuer Jahreszyklus an. Die Tora beginnt mit zwei Berichten über die Erschaffung der Welt. Aus dem Staub der aus dem Nichts erschaffenen Welt formt der Ewige den Menschen und setzt ihn in den Garten Eden. Dieser Mensch hat zunächst beide Geschlechter und wird nun erst getrennt. Den Menschen Adam und Chawa wird verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, der inmitten des Gartens steht. Doch weil sie – verführt von der Schlange – dennoch eine Frucht vom Baum essen, weist sie der Ewige aus dem Garten. Draußen werden ihnen zwei Söhne geboren: die Brüder Kajin und Hewel. Der Ältere der beiden, Kajin, tötet seinen Bruder Hewel.
1. Buch Moses 1,1 – 6,8

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