Talmudisches

Sünden vermeiden

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Talmudisches

Sünden vermeiden

Was die antiken Weisen empfahlen

von Yizhak Ahren  02.08.2024 09:59 Uhr

Die beiden Tannaiten Akawja Ben Mahalalel und Rabbi Jehuda HaNassi äußerten sich einst zu einem Thema, das für jeden religiösen Menschen von großer Bedeutung ist: Was kann ich tun, um nicht der Sünde zu verfallen? Ihre Empfehlungen findet man in Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter.

Die beiden antiken Weisen gaben dabei verschiedene Ratschläge. Akawja Ben Mahalalel, der seine Zeitgenossen an Weisheit und an Sündenscheu übertraf, empfahl: »Betrachte folgende drei Dinge, so kommst du nicht in die Gewalt der Sünde: Wisse, woher du kommst, wohin du gehst und vor wem du einst Rechenschaft abzulegen hast. Woher du kommst? Von einem der Fäulnis verfallenden Keim. Wohin du gehst? Zu einem Ort des Staubes, des Moders und des Gewürms. Und vor wem du einst Rechenschaft abzulegen hast? Vor dem König aller Könige, gelobt sei Er« (Sprüche der Väter 3,1). Dieser Ausspruch wird in aschkenasischen Gemeinden bei Beerdigungen vorgetragen.

Drei Generationen nach ihm lehrte Rabbi Jehuda HaNassi, der Redakteur der Mischna, man solle drei Dinge betrachten, um nicht in die Gewalt der Sünde zu kommen: »Wisse, was über dir ist: ein sehendes Auge und ein hörendes Ohr und dass alle deine Taten in das Buch eingeschrieben werden« (2,1).

Wie das Nachdenken über Gottes Wissen den Menschen von einer geplanten Sünde abbringen kann, zeigt eine Anekdote, die über Rabbi Sundel aus Salant, auch bekannt als Sundel Salant (1786–1866), erzählt wird. Dieser Gelehrte ließ sich mit einer Pferdekutsche durch die Gegend chauffieren. Als sie unterwegs auf einem Feld Strohballen sahen, blieb der Kutscher stehen, um Futter für seine Pferde aufzuladen. Rabbi Sundel bemerkte die Absicht des Kutschers und schrie: »Man sieht! Man sieht!« Da ließ der Kutscher das Stroh fallen und eilte davon. Bald jedoch erkannte er, dass niemand auf dem Feld war, und sagte zu seinem Fahrgast: »Rabbi, darf man lügen?« Rabbi Sundel zeigte mit einem Finger nach oben und erklärte: »Mein Sohn, dort oben sieht man.«

»Rabbi, darf man lügen?« - »Mein Sohn, dort oben sieht man«

Es liegt nahe, die Empfehlungen von Akawja Ben Mahalalel und Rabbi Jehuda HaNassi miteinander zu vergleichen. Rabbiner Jitzchak Seckel Bamberger (1863–1934) bemerkte, dass die von Letzterem genannten drei Dinge nur eine Erläuterung des dritten Ausspruchs von Akawja Ben Mahalalel enthalten.

Der Schweizer Rabbiner Abraham Abba Weingort (Jahrgang 1946) macht darauf aufmerksam, dass der perspektivische Ansatz der beiden recht unterschiedlich ausfällt: Während Rabbi Jehuda HaNassi empfiehlt, den Ewigen in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu rücken (»Wisse, was über dir ist!«), rät Akawja Ben Mahalalel zu einer Reflexion über das Schicksal des Menschen (»Wisse, woher du kommst und wohin du gehst!«).

Derartige Überlegungen über Herkunft und Tod, so merkte Rabbi Löw, der Maharal von Prag (1520–1609), an, würden den Stolz, der den Menschen zum Sündigen verleitet, brechen.

Zum Schluss sei noch die Frage gestellt, warum Rabbi Jehuda HaNassi die drei Dinge, die Akawja Ben Mahalalel empfahl, nicht als Programmpunkte zur Selbsterziehung akzeptieren wollte und sie daher durch drei andere Dinge ersetzt hat. Die umgekehrte Frage zu stellen, warum Akawja Ben Mahalalel nicht auf Gottes Auge hinwies, ist dagegen wenig sinnvoll, weil er den Ausspruch von Rabbi Jehuda HaNassi ja nicht kennen konnte.

Rabbiner Asher Zelig Weiss (Jahrgang 1953) meint, dass Akawja Ben Mahalalels Empfehlung nur für bestimmte Situationen geeignet sei, und zwar für den Fall, dass der Mensch akut von seinem Trieb bedrängt werde. Unter normalen Umständen sollte man nicht darüber sinnen, »woher du kommst und wohin du gehst«. Solche Überlegungen könnten verstören und mitunter sogar lähmen. Auch ginge ihre positive Wirkung nach einer gewissen Zeit verloren. Rabbi Jehuda HaNassis Ratschlag zur Vermeidung von Sünden hingegen sei ohne schädliche Nebenwirkungen.

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