Yechiel Brukner

»Sozialen Sauerstoff einatmen«

»Man merkt erst, wie wichtig die Semirot sind, wenn man sie nicht anstimmen kann«: Yechiel Brukner, Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln Foto: Constantin Graf Hoensbroech

Herr Rabbiner Brukner, seit Mitte Juli gibt es in der Synagogen-Gemeinde Köln wieder einen Kiddusch nach dem G’ttesdienst. Erzählen Sie doch erst einmal, wie sich die Rückkehr zum gemeinsamen Gebet nach der langen Corona-Pause gestaltet hat.
Die Rückkehr in die Synagoge gestaltet sich wie alles mit gemischten Gefühlen. Einerseits erfüllt es uns mit einer Riesenfreude, wieder da zu sein, im G’tteshaus, und gemeinsam zu beten. Auf der anderen Seite ist jetzt alles anders – nichts ist mehr so, wie es war. Es gibt Sperrzonen, Sperrsitze und bestimmte Bräuche, die wir jetzt nicht mehr so einhalten können, wie sie üblich waren, weil wir uns wegen der Lebensgefahr an die Corona-Regeln halten müssen.

Kommen genauso viele Menschen in die Synagoge wie früher?
Freitagabend sind es wieder so viele wie sonst, 15 bis 20 Leute, am Schabbat ist es spärlicher. Wir sind dann etwa 60 bis 80 Leute in der Synagoge.

Das ist doch gar nicht schlecht …
Das stimmt. Während der Woche ist unser Minjan allerdings nicht immer gesichert, weil die älteren Menschen mehr Angst haben. Aber langsam kommen auch sie »aus dem Busch heraus«, weil sie verstanden haben, dass die Regeln bei uns eingehalten werden. Außerdem haben wir in Köln das Privileg, eine sehr große Synagoge zu haben.

Zurück zum Kiddusch: Sie haben zuerst einen »Testlauf« unternommen. Und jetzt gibt es in der Synagoge wieder einen richtigen Kiddusch?
Nein. Das würde bedeuten, dass es Kigel und Tscholent und den Segen »Hamozi« mit der Verteilung von Challa an alle gibt. Es gibt keinen »großen« Kiddusch, so wie früher.

Wie ist der »Testschabbat« abgelaufen?
Wir haben uns alles im Vorfeld sehr gut und in allen Details überlegt und unserer Kreativität freien Lauf gelassen, damit wir für alle Probleme eine Lösung finden. Und dann haben wir es ausprobiert. Am Ende steht und fällt alles mit den Menschen. Der Gemeindevorstand, die Geschäftsführung und das Rabbinat haben ein Konzept ausgearbeitet, aber wir mussten sehen, ob die Leute diszipliniert genug sind, sich daran zu halten. Und es hat sich alles bewährt, sowohl die Logistik als auch der Mensch.

Wie funktioniert der Kiddusch konkret? Ich nehme an, es gibt kein Buffet, von dem man sich einfach Essen nehmen kann?
Beginnen wir bei den Rahmenbedingungen. Die Teilnehmer müssen sich vorab anmelden, damit man gegebenenfalls jeden Corona-Fall nachverfolgen kann. Es gibt feste Plätze, und die Abstände müssen beachtet werden. Der Saal ist so bestuhlt, dass die Distanz eingehalten wird. Und leider können wir nach wie vor nicht singen. Der Chasan in der Synagoge darf bei uns wieder singen. Aber zusammen am Tisch geht es nicht. Wir dürfen am Tisch leider nicht zusammen singen.

Auch nicht beim Birkat Hamason, dem Tischgebet?
Es wird gesagt, aber nicht gesungen. Auch nicht das »Schalom Aleichem«, und das ist wirklich ein Verzicht. Aber summen darf man, unter der Maske.

Ist das nicht ein komisches Gefühl?
Doch. Viele lachen, anstatt zu summen. Es ist sehr lustig.

Das ist doch gut. Sie haben also Spaß dabei!
Unbedingt. Obwohl es auch ein bisschen traurig ist. Man merkt erst, wie wichtig die Semirot sind, wenn man sie nicht anstimmen kann. Essen ist gut, Zusammensein ist gut, aber das Singen, die Melodien, der Gesang, die fehlen. Und: Der Rabbiner hat wie immer zwei Challot vor sich, aber er kann sie jetzt nicht verteilen.

Was machen Sie stattdessen?
Jeder Teilnehmer hat an seinem Platz eine kleine Challa, speziell für ihn gebacken, von Dimitri aus unserer Küche. Eine wunderbare Challa. Und nachdem der Rabbiner den Segensspruch »Hamozi Lechem min Haaretz« (»der das Brot aus der Erde hervorbringt«) gesagt hat, isst jeder von seiner Challa. Zweitens hat jeder an seinem Platz drei Becher. Einen für Wein, der eingeschenkt wird – niemand schenkt sich alleine ein. Der zweite ist für Wasser, und der dritte ist ein großer Einwegbecher für Netilat Jadaim, das Händewaschen. Und das funktioniert so: Wir haben vier Waschbecken. Bei zweien läuft das Wasser automatisch, niemand macht den Hahn an. Man steht in der Reihe, auf dem Boden gibt es Markierungen für zwei Meter Abstand. Jeder wäscht sich die Hände in seiner »Natla«, dem Einwegbecher, wirft ihn zusammen mit den Einweghandtüchern weg, geht auf der anderen Seite raus, und erst dann kommt der Nächste. Das dauert länger als sonst, aber wir haben Geduld füreinander und sind froh, dass das gut läuft. So machen wir das beim Kiddusch am Abend und bei der Seuda Schlischit, der »dritten Mahlzeit« vor Schabbatausgang. Aber beim großen Kiddusch am Schabbatmorgen geht das nicht.

Warum nicht?
Weil wir dann mehr Leute sind. Aber nicht alle, die zum Gebet in die Synagoge kommen, gehen auch zum Kiddusch. Viele ziehen es vor, nicht zu kommen – ich würde sagen, 50 Prozent der Beter. Sie wollen das Risiko nicht eingehen. Obwohl die Tische mit großem Abstand voneinander aufgestellt sind und nur zwei Leute an den Enden des Tisches sitzen. Bei allen drei Mahlzeiten bekommt jeder einen vorbereiteten Teller mit Salaten und Aufschnitt, und damit gibt man sich zufrieden. Warmes Essen gibt es derzeit leider nicht. Aber die Leute sind diszipliniert. Wir sind glücklich darüber, was wir haben. Wir schauen auf das halb volle Glas, nicht auf das halb leere. Keiner meckert. Die Leute sind sich bewusst, dass man sich hier in Köln immer wieder Gedanken darüber macht, wie wir so viel wie möglich realisieren können, ohne, G’tt behüte, jemanden zu gefährden.

Es gibt auch in anderen Gemeinden, wie etwa in Wiesbaden, wieder Kidduschim. Ist das ein Trend?
Ich weiß es nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass es allen gleich geht. Dieses soziale Vakuum – dessen Ausmaß wir am Anfang gar nicht erahnen konnten, denn niemand hat gedacht, dass Corona einen so tiefen Einschnitt in unser Leben bedeutet –, das wollen alle füllen. Und man sieht überall bei den Menschen die Zeichen, wie sehr ihnen das fehlt. Man entfernt sich voneinander, das ist nicht gut. Dieses Leben in Einsamkeit ist nicht gut. Die Menschen brauchen das Zusammenkommen. Und wir müssen uns immer wieder dafür anstrengen, im Rahmen des Verantwortbaren, alles zu tun, damit unsere Leute wieder sozialen Sauerstoff einatmen können. Das ist eine zentrale Aufgabe der Gemeinden in dieser schwierigen Zeit, und wir sind sehr froh, sie erfüllen zu können.

Mit dem Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) sprach Ayala Goldmann.

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