Schöpfung

Samen trifft Ei

Befruchtung: mikroskopische Aufnahme einer menschlichen Eizelle und tausender Spermien Foto: dpa

Was ist der Mensch? Der britische Fantasy-Schriftsteller Terry Pratchett schrieb in seinem Roman Pyramids: »Die sind nur Säcke, gefüllt mit denkendem Wasser, durch Kalziumteile für eine Weile aufgestellt.« Denkendes Wasser. Wir wissen, der menschliche Körper besteht zu 60 Prozent aus Wasser. Bei manchen kleinen Kindern sollen es angeblich 120 Prozent sein, denn es fließt und tropft ohne Pause aus Nase, Ohren, Mund und anderen Körperteilen.

Wir alle wissen: Frauen sind anders als Männer. Frauen sind in der Lage, aus ein wenig Flüssigkeit einen neuen Menschen zu schaffen. Bisher versteht keiner, wie das wirklich funktioniert. Man kann heute das Fruchtwasser untersuchen, man setzt Ultraschall ein und nimmt Blutproben. Dass Zellen sich teilen und vermehren, wissen wir – aber warum sie das tun, wissen wir noch nicht.

Da kommt zu einem winzigen Ei ein Tröpfchen Flüssigkeit von einer anderen Person, verschmilzt mit ihm – und plötzlich entsteht neues Leben. Oder potenzielles Leben – zumindest etwas, das sich bewegt und das Potenzial hat, völlig unabhängig zu werden und eines Tages das Ganze vielleicht zu wiederholen.

Zeugung Ich war nicht nur dabei, als meine Kinder geboren wurden, ich war sogar dabei, als sie gezeugt wurden! Aber wir wissen alle: Der männliche Beitrag an der Entstehung neuen Lebens ist nicht groß. Die Frau ist es, die alles in ihrem Körper hütet, während die Zellen potenziellen neuen Lebens sich teilen, vermehren, wachsen und Form annehmen.

Es entstehen ein Kopf und Glieder; Blut pulsiert durch Gefäße. Wie lange dauert es, bis aus dem Zellgebilde ein Mensch wird? Die Meinungen gehen auseinander. Für fromme Christen ist es bereits bei der Verschmelzung von Eizelle und Samen der Fall. Auch ungeborene Kinder haben ihre Seelen schon zugeteilt bekommen. Das Judentum hingegen sagt, das Leben beginnt erst, wenn das Baby auf die Welt kommt, wenn es atmet und schreit. Egal ob Juden oder Christen, alle stimmen darin überein: Die Geburt ist gefährlich und keine saubere Angelegenheit. Flüssigkeiten treten aus: Blut, Urin, Fruchtwasser.

Die ersten Verse unseres Wochenabschnitts sagen, dass eine Frau, die von einem Jungen entbunden wurde, sieben Tage unrein ist und dann, nach der Beschneidung, noch 33 Tage »im Blut der Reinigung« bleibt. Hat die Frau ein Mädchen zur Welt gebracht, ist sie zwei Wochen unrein und bleibt danach 66 Tage »im Blut der Reinigung«. Warum, ist nicht klar. Vielleicht ist die Entbindung von einem Mädchen eine »Geburt hoch zwei« – denn dieses Baby wird irgendwann selbst zu einer Frau.

Zwillinge Interessant ist, dass man bei einem Jungen am achten Tag die Beschneidungszeremonie durchführt (3. Buch Mose 12,3), während man bei einem Mädchen zwar zwischen den ersten 14 und den 66 folgenden Tagen (zusammen sind es 80) unterscheidet, aber keine Zeremonie erwähnt. Dieser Text wirft verschiedene Fragen auf: Was ist, wenn die Frau Zwillinge gebärt: zwei Jungen, zwei Mädchen, oder einen Jungen und ein Mädchen? Was ist mit einer Fehlgeburt? Und was heißt »reines Blut« (Damei tahara)?

Wer sich dafür interessiert, sollte im Mischna-Traktat Nidda nachlesen, wie die Rabbinen – allesamt Männer – ernsthaft darüber diskutierten, was zu tun wäre, wenn eine Frau eine Fehlgeburt hat, was es für Unterschiede gibt, wenn der Fötus männlich, weiblich oder gar ein Zwitter ist, was geschieht, wenn es Zwillinge sind, was, wenn einer von beiden bei der Geburt stirbt – sie wollten alle möglichen Optionen erforschen. Sie unterschieden auch zwischen rotem und schwarzem Blut – wir würden heute sagen: zwischen frischem und nicht mehr frischem – und sie unterschieden zwischen den verschiedenen Phasen der Entwicklung eines Embryos.

Für die Rabbinen gab es technische Fragen von Reinheit und Unreinheit. Wir mögen vielleicht andere Prioritäten setzen, aber wir lernen daraus, dass es schon damals, ohne die Technik von heute, intelligente Männer gab, die ihre Augen benutzten, beobachteten und diskutierten. Es waren fromme Menschen, die wussten, dass Gott Mann und Frau erschaffen und ihnen befohlen hatte, sich zu vermehren. Aber sie wussten auch, dass das nicht immer einfach war. Sie wussten, wie gefährlich die Entbindung für eine Frau sein kann; sie wussten, dass ein Embryo viel zu früh oder nach Monaten im Mutterleib trotzdem tot zur Welt kommen kann. Die Rabbinen konnten sehen, was passierte – aber nicht erklären, warum. Genau wie wir heute! Es bleibt also ein Wunder, ein Rätsel, warum aus ein paar Tröpfchen ein neuer Mensch entsteht.

Brit Mila Es gibt heute Juden, die möchten auch für Mädchen eine Zeremonie schaffen, mit der sie in den Bund, den Gott mit dem Volk Israel geschlossen hat, aufgenommen werden. Andere suchen Alternativen zur Brit Mila, sodass Jungen ohne Beschneidung in den Bund treten können. Interessante Widersprüche tun sich hier auf: Sollen die Mädchen wie die Jungen behandelt werden (das heißt aber nicht Beschneidung!) oder die Jungen wie die Mädchen? Inwieweit kann man diesen Text in einer Zeit verstehen, da viele versuchen, die Geschlechter gleich zu behandeln? Persönlich bin ich für die Beschneidung – aber nur für Jungen, genauso, wie es in unserem Wochenabschnitt steht.

»Von der Wiege bis zum Grab« – wir glauben, dass es bereits vor der Wiege etwas gab und es auch nach dem Grab noch etwas geben wird. Aber die Details bleiben unklar. Vielleicht ist es besser so.

Der Autor ist Landesrabbiner von Schleswig-Holstein.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Tasria lehrt die Gesetze für die Wöchnerin und die Dauer der Unreinheit. Für ein männliches Kind wird zudem festgelegt, dass es am achten Tag nach der Geburt beschnitten werden soll. Außerdem übermittelt Tasria Regeln für Aussatz an Körper und Kleidung. Es wird detailliert geschildert, wie dieser Aussatz festgestellt werden kann und wie dagegen vorzugehen ist.
3. Buch Mose 12,1 – 13,59

Cannabis

Halachisch high?

Das grüne Rauschmittel wird in Deutschland erlaubt. Doch wie steht das jüdische Gesetz dazu?

von Vyacheslav Dobrovych  29.03.2024

Anim smirot

Zu heilig für jeden Tag

Die Verse, die nur am Schabbat oder an Feiertagen gesungen werden, gelten als besonders erhaben

von Rabbiner Avraham Radbil  29.03.2024

Zaw

Gewaltprävention

Die Vorschriften für die Opferungen haben ihren tiefen Sinn bis heute nicht verloren

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  29.03.2024

Talmud

Dem Tod so nah

Was die Weisen der Antike über den Zustand zwischen Diesseits und Jenseits lehren

von Vyacheslav Dobrovych  29.03.2024

Basel

Basler Rabbiner übersetzt Talmud-Traktat über Purim 

Zu seinem Abschied hat Moshe Baumel das kürzeste Talmud-Traktat ins Deutsche übersetzt

von Peter Bollag  25.03.2024

Wajikra

Sozial gestaffelt

Die Tora lehrt, dass arme Menschen für ihre Vergehen Tauben statt Schafe oder Ziegen opfern müssen

von Rabbiner Avraham Radbil  22.03.2024

Purim

Der große Plot-Twist

Von der Megillat Esther lernen wir, das Schicksal zu wenden und unsere Zukunft besser zu gestalten

von Rabbiner Akiva Adlerstein  22.03.2024

Berlin

Purim für Geflüchtete

Rabbiner Teichtal: »Jetzt ist es wichtiger denn je, den Geflüchteten die Freude am Feiertag zu bringen«

 21.03.2024

Berlin

Neue Ausstellung über Sex im Judentum

Zu sehen sind rabbinische Schriften, Skulpturen, Filme, Fotografien, tiktok-Videos, Ritualgegenstände und Gedichte

 21.03.2024