Interview

»Religiosität stößt auf immer weniger Verständnis«

Rabbiner Julian-Chaim Soussan Foto: Marco Limberg

Herr Rabbiner Soussan, wie steht es um das Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland aus jüdischer Sicht?
In der Präambel des Grundgesetzes heißt es, das »Deutsche Volk« habe sich das Grundgesetz »im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen« gegeben. Schon dort sehen wir eine Rücksichtnahme auf die religiöse Ausrichtung. Die Religionsfreiheit ist im Grundgesetz verankert. Zudem gibt es viele Gesetze, die unter dem Eindruck der Grauen der Schoa entstanden sind. Insofern haben wir eine breite Palette von Möglichkeiten, Glauben, insbesondere den jüdischen Glauben, in Deutschland auf Grundlage der deutschen Gesetze zu leben. Gleichwohl gibt es in der praktischen Anwendung und Umsetzung immer wieder Beschränkungen.

Welche Beschränkungen sind das?
Wir erleben etwa, dass an Universitäten Klausuren häufig am Schabbat geschrieben werden, weil dann die großen Hörsäle frei sind. In Krankenhäusern erleben wir immer wieder, dass Menschen, die koscher essen wollen, mit Unverständnis begegnet wird. Sie werden dann aufgefordert, »mal eine Ausnahme zu machen«. Mit Gefängnissen muss man immer wieder neu verhandeln, wie Gefangene an koscheres Essen kommen. Wir erleben, dass Schulausflüge oder Klausuren auf jüdische Feiertage – einschließlich Jom Kippur – gelegt werden.

Muss die Mehrheitsgesellschaft in dieser Hinsicht sensibler werden?
Teilweise geht es tatsächlich um Unkenntnis, zum Teil aber auch um unklare Regelungen. Wenn man als Angestellter alle jüdischen Feiertage freinehmen möchte, dann kommt man auf bis zu 20 Tage im Jahr. Sollte das nicht geregelt werden? So ist es immer wieder im Gespräch, Jom Kippur zum Feiertag zu erheben. Zum anderen sind wir immer wieder darauf angewiesen, wie sehr Behörden sich bemühen, sich auf jüdische Erfordernisse einzustellen – wenn etwa eine Beerdigung innerhalb von 24 Stunden je nach Kommune technisch gar nicht möglich ist.

Warum sollte der Gesetzgeber manche Regelungen präziser formulieren?
Lassen Sie uns auf das Beispiel Beschneidung blicken. Wir hatten jahrelang eine selbstverständliche Praxis, bis ein Richter das Gesetz auf einmal anders interpretierte. Um das zu lösen, musste ein eigenes, neues Gesetz verabschiedet werden. Wir waren erstaunt, dass das notwendig wurde. Es kommt darauf an, Gesetze so nachzuschärfen, dass man sie in der Praxis nicht immer wieder neu verhandeln muss und dabei auf den Goodwill der einzelnen Entscheidungsträger angewiesen ist.

Gilt der jüdische Grundsatz »Dina deMalchuta Dina« - »das Gesetz des Landes ist Gesetz« uneingeschränkt?
Wir leben in einer Zeit und einem Land, wo das Praktizieren des jüdischen Glaubens nicht dem Gesetz widerspricht. Insofern ist es für uns einfach, den Grundsatz anzuwenden. Das bezieht sich etwa auf finanzielle Dinge: Ich bin verpflichtet, Steuern zu zahlen, und zwar nicht nur aus Angst vor staatlichen Repressalien, sondern weil es ein eigenständiges jüdisches Gesetz ist, das ich damit erfülle: »Dina deMalchuta Dina«. Wenn der Staat grundsätzliche jüdische Praktiken, wie beispielsweise die Beschneidung, verbieten würde, dann wäre es nicht mit diesem Gesetz zu vereinbaren. Die im Judentum geltenden Verbote mit dem Verweis auf die Staatsräson zu übertreten, ist nicht jüdisch. In diesem Moment müsste man in letzter Konsequenz das Land verlassen.

Wo könnte der Gesetzgeber vom Judentum und dem jüdischen Recht lernen?
Wenn es beispielsweise um Grenzentscheidungen am Beginn und Ende des Lebens geht. Wir stellen häufig fest, dass Ethik heutzutage etwas sehr Temporäres ist. Das, was vor 50 Jahren ethisch oder moralisch undenkbar war, ist heute selbstverständlich. Jüdische Ethik entwickelt sich seit fast 3000 Jahren weiter. Bestimmte Fragen werden immer wieder neu verhandelt. Deshalb hat das Judentum immer mitzusprechen. Es ist wichtig, dass man genau hinhört und sich äußert – etwa wenn es um assistierten Suizid geht. Da wird argumentiert, dass die Freiheit des Menschen auch bedeutet, über den Tod bestimmen zu dürfen. Das kann ich nicht nachvollziehen, denn meine Freiheit wird schon eingeschränkt, wenn ich etwa die Gurtpflicht umsetzen muss. Im Judentum ist es klar geregelt: Das Leben ist als höchstes Gut zu sehen. Neben der jüdischen Medizinethik gibt es auch eine Umwelt- und Finanzethik – und damit viele logische, nachvollziehbare Grundwerte, die man aus dem Judentum ableiten kann.

Lassen sich in einer immer säkulareren Gesellschaft religiöse Gesetze überhaupt befolgen?
Im Grundsatz funktioniert es. Es ist aber ein großer Unterschied, ob man im Beruf selbstständig oder angestellt ist und welche Voraussetzungen das Angestelltenverhältnis beinhaltet, was Schabbat und Feiertage angeht. Zudem merken wir, dass Religiosität auf immer weniger Verständnis stößt. Damit sind auch die Kirchen konfrontiert. Noch ist die Einhaltung religiöser Gebote im Alltag rechtlich haltbar. Doch würde es helfen, wenn einige Dinge explizit gesetzlich geregelt würden, damit nicht jeder Einzelne sie immer wieder neu aushandeln muss. Wir möchten auch in einer säkularen Gesellschaft die Möglichkeit haben, die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Religionsausübung praktizieren zu können.

Mit dem Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt sprach Eugen El.

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025

Anti-Judaismus

Friedman: Kirche hat »erste globale Fake News« verbreitet

Der gebürtige Pariser warnte zudem vor weltweiten autokratischen Tendenzen und dem Verlust der Freiheit

 02.09.2025